„Intersecting Encounters“ – grob zu übersetzen mit „sich überschneidende Begegnungen“ – war die Eröffnungsveranstaltung des Berliner „Monats der zeitgenössischen Musik“ (MdzM) latent kryptisch überschrieben. Inhaltlich traf das aber den Kerngedanken des Programms und letztlich auch den Geist des gesamten, alljährlich von der Initiative Neue Musik Berlin getragenen Projektes: die genreübergreifende Vernetzung diversester Spielarten der zeitgenössischen Musikszene Berlins, in diesem Jahr mit annähernd 120 Veranstaltungen, die den gesamten Stadtraum bespielen. Zur Eröffnung auserkoren war diesmal das Kühlhaus, ein in den 1990er-Jahren vor dem Abriss bewahrtes Industriedenkmal (einst größter Kühlhauskomplex Europas), das musikalisch bisher erstaunlich wenig in Erscheinung getreten ist. Das dürfte sich nach diesem Abend ändern, denn die großzügigen postindustriellen Räumlichkeiten wiesen eine erstaunlich gute Akustik auf und waren wie geschaffen für eine „Surround-Bestuhlung“.
Energetische Schnittmengen
Der „Monat der zeitgenössischen Musik“ startet mit explosiven Begegnungen im Berliner Kühlhaus
In sechs Konzerten, die zeitlich und räumlich angenehm frei und flexibel zu besuchen waren (ein erstaunlich konzentriertes Kommen und Gehen war die Folge), wurden Grenzen von Komposition und Improvisation, von Komponist*innen und Interpret*innen, aber auch von Elektronik und Instrumentalklang in verschiedenen „Begegnungen“ namhafter Formationen und Solisten aufgelöst, wobei insbesondere der Aspekt der „Ko-Kreation“ im Fokus stand. Es gab also einfach mal wieder „nur“ Musik auf die Ohren, keine multimedialen Verdrahtungen oder flugs zurechtgezimmerte zeitthematische Verknüpfungen, die nur allzu oft in jüngerer Zeit mehr dem Fördertopf hinterherlaufen als der individuellen künstlerischen Notwendigkeit Ausdruck verleihen.
Das konzeptionelle Mutterschiff dieser ausgesprochen musikalischen Musik-Veranstaltung bildete das Trio Dell-Lillinger-Westergaard (DLW), momentan einer der auffälligsten Akteure im Grenzbereich von Jazz und neuer Musik, das unter anderem Material von seiner aktuellen Platte „Extended Beats“ zum Besten gab und von diversen solistischen Satelliten umkreist wurde. Sie hießen Sofia Jernberg (Stimme), Tamara Stefanovich (Klavier) oder entsprangen dem Trio Catch, Zafraan Ensemble und Sonar Quartett. Wer also den Eindruck hatte, hier findet ein Festival des Labels bastille musique statt, (auf dem fast alle Beteiligten mehrfach veröffentlicht haben), lag nicht ganz falsch, zumal Sebastian Solte für Produktion und Dramaturgie einer Veranstaltung verantwortlich zeichnete, die sich von Konzert zu Konzert in ihrer Intensität steigerte.
Zunächst war es an Sofia Jernberg, ihre außergewöhnlichen Vokalklänge mit dem feinmaschigen Trio-Gewebe von DLW zu verschmelzen. Christopher Dell (Vibraphon), Christian Lillinger (Schlagzeug) und Jonas Westergaard (Bass) knüpften mit der schwedischen Composer-Performerin erst zerbrechliche Texturen aus ganz zarten Aktionen und Reaktionen, dann nahm die Physis von Jernbergs Lautperformance immer größeren Raum ein. Da entfalteten sich ungehörte, gnadenlos grenzfrequente Artikulationen und dröhnende Drones, die schwer ins atavistisch-schamanische drängten.
Was „Intersecting Encounters“ besonders interessant machte, war die kluge Kombination aus aktuellen (Ko-)Kompositionen/Improvisationen und älteren Stücken, die wenig bekannt, aber unbestreitbar hörenswert sind: Nachdem das Trio Catch quasi als Prolog zum Hauptprogramm Matthias Kranebitters unbändig wirbelnde Klang-Strudel von „whirl & pendulum“ (2021) in Bewegung gesetzt hatte, widmete es sich zusammen mit Mitgliedern des Zafraan Ensembles der Musik Christoph Bertrands, 2010 mit 29-Jahren als eine der größten kompositorischen Hoffnungen Frankreichs aus dem Leben geschieden. Die ganze Unruhe und polyphone Schönheit seines Komponierens bündelte sich mit bemerkenswerter Energie im Trio „Sanh“ (2006); Liam Mallett spielte einen Ausschnitt aus dem aberwitzigen Flöten-Solo „Ektra“ (2001); auch Samir Odeh-Tamimis „Solo für Violine“ (2016) fand hinreißend expressive Darstellung durch Emmanuelle Bernard.
Erster Gipfelpunkt der „Encounters“ war die Performance des Sonar Quartetts, das die räumlichen Gegebenheiten konsequent ausnutzte und einige Überraschungen in petto hatte: Eine davon war „ParaMetaString“ (1996) der aktuellen Siemens-Preisträgerin Unsuk Chin. Das selten zu hörende Werk aus Chins elektronischen Anfängen erkundet in vier kontrastiven Sätzen mit mikroskopischer Tiefenschärfe flirrende Obertonkonstellationen und mikrotonale Modulationen als Hybrid aus klassischem Streichquartett-Klang und Live-Elektronik. Ein zu Unrecht vernachlässigtes Werk! Ebenfalls mit Verstärkung ging „Lunik II“ (UA) auf verschiedenen Kühlhaus-Etagen an den Start, ein raumgreifender Klang-Prozess, in dem das Sonar-Quartett sich als kompakter Composer-Performer präsentierte, dessen Klangfindungen zwischen flächigen Geweben und hypnotischen Loops keine Langeweile aufkommen ließ. Ja, mit der elektrisierenden Performance des seit einiger Zeit neu aufgestellten Quartetts fing das postindustrielle Ambiente endgültig an, lebendig zu werden und Wojciech Grabowski (Violine), Salvatore di Lorenzo (Violine), Ian Anderson (Viola) und Konstantin Manaev (Violoncello) machten nachdrücklich klar: es muss nicht immer das Arditti oder Jack Quartett sein.
Hatte sich DLW bis dahin noch allein oder im Rahmen ko-kompositorischer Aktion in vornehmer Zurückhaltung geübt, wurde im vierten Teil des Abends die ganze Energie und mikroskopisch getimte Präzision spürbar, die dieses Trio sich auf der Schwelle von Konstruktion und Spontanität erarbeitet hat. Nachdem zuvor mit „Bellingham“ und „Sonar Ellipse“ eher sphärische Timbres und feine Klangzeichnungen im Blickpunkt standen, ging es nun rhythmisch und gestisch impulsiver zu. Die Stücke aus der „Blocks“-Serie verwandelten fein filetierte (Poly-)Rhythmen in groovende Interaktionen, wo Konstruiertes sich endgültig locker machte und die Trio-Architektur unmittelbar körperlich wurde. Christian Lillingers perkussive Choreografie (der man allzu leicht Affektiertheit unterstellen könnte, was am Wesen seines Spiels aber völlig vorbeigeht ...) war dabei ein Ereignis für sich. Zum krönenden Abschluss des Abends gesellte sich dann Pianistin Tamara Stefanovich zum Trio und gemeinsam drehte man die Temperatur im Kühlhaus als explosives Quartett noch ein paar Grad höher.
Fazit: Ein rundum gelungener, entspannt unprätentiöser und musikalisch fruchtbarer Eröffnungsabend des Berliner „Monats der zeitgenössischen Musik“, der Kräfte freisetzte, die bitter nötig sind. Überschattet war der Abend von den bevorstehenden Sparmaßnahmen der Bundeskulturförderung, die der Freien Szene in Zukunft fast 50 Prozent weniger Mittel als im Vorjahr in Aussicht stellt.
In den Begrüßungsreden von Sagardia (Initiative Neue Musik Berlin) und Lisa Benjes (field notes) wurde das entsprechend kritisch thematisiert. Während also die Potentiale freier Kunst und Musik drastisch beschnitten werden, bekommen etablierte kulturelle Player (wie die Stiftung preußischer Kulturbesitz) im Kontext eines insgesamt gesteigerten Etats hingegen ein deutliches Plus an finanzieller Zuwendung. Eine Staatsministerin für Kultur und Medien sollte wissen, dass die Entwicklungen der Künste nicht von Museen und Archiven vorangetrieben werden, sondern von visionären Individuen, die nur allzu oft am Existenzminimum leben und arbeiten, bevor ihre Ideen und Praktiken kommerzialisiert werden.
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