Die „Messa da Requiem“ von Giuseppe Verdi ist eins der ganz großen Werke in der Geschichte der Musik, unvergesslich allen, die es einmal gehört haben. Lautstärkegrade am Rande des Möglichen – kaum mehr hörbare vierfache pianissimi und gewaltige, chromatisch jagende Fortissimi, die Mauern zu sprengen schienen. Es entstehen Dimensionen wie atemberaubender Stillstand oder auch kaum noch aushaltbar bedrohliche Dramatik. „ängstlich, gemurmelt, schreiend, zitternd, entsetzt....“ hat Verdi da für den Chor verlangt, auch „äußerst leise, mit düsterer Stimme und sehr traurig“. Die Uraufführung in Mailand sangen 120 SängerInnen, nun war an der Staatsoper Hannover durch die Regisseurin Elisabeth Stöppler eine szenische Fassung zu erleben, wobei der Begriff „Erlebnis“ wörtlich genommen werden darf.
„Er weinte und liebte für alle“: Elisabeth Stöpplers Verdi-Requiem an der Oper Hannover gelingt als überzeugendes Szenenexperiment
Mit dieser Konzeption war leicht zu hören, wie ungeheuer modern dieses 1874 uraufgeführte Werk ist. Modern im Sinne der Erfassung ebenso zeitloser archaischer Menschheitsgefühle: Angst, Trost, Hoffnung, Trauer. All dieses drückt das „Requiem“, das wie auch andere geistliche Werke des 19. Jahrhunderts längst die rein liturgische Funktion verlassen hat, psychologisch aus. Die Kraft und Dimensionen dieser Gefühle veranlassten den Dirigenten Hans von Bülow, von Verdis „neuester Oper im Kirchengewande“ zu sprechen.
Der katholisch-dogmatische Ritus des Textes beansprucht eine Allgemeingültigkeit, lässt Stöppler aber fragen, wie es tatsächlich um die Trauernden Individuen steht, die die beschriebenen Schicksale durchleben müssen. Dazu hat Katja Haß ein Stadion gebaut und Gesine Völlm Kostüme aus allen Schichten der Gesellschaft entworfen: da gibt es das alte Ehepaar, jugendliche Punks mit Irokesenschnitt und Handwerker, da gibt es Manager und Kinder mit Stofftieren...sie alle versammeln sich, um ihrer Toten jenseits kirchlicher Funktionalität zu gedenken. Die Bilder klebt eine nicht-binäre aus der Zeit gefallene, sprechende Figur – für Stöppler die „demokratischste Figur – an die Wand (Bühne: Heinrich Horwitz) und jede und jeder erleben auf der Folie von Verdis mitreißender Musik unterschiedliche Emotionen zum Tod. Das öfter mal in die Sitzreihen schwenkende Licht suggeriert, dass auch wir im Publikum zu der Stadion-Gemeinschaft dazu gehören.
Farbenreiche Musik und Musiker*innen
Das niedersächsische Staatsorchester Hannover unter der stürmenden Leitung von James Hendry war in der entsprechenden Hochform. Das „Dies Irae“ tobte – höchstes Lob dem Chor – , die abgerissenen hohen Streicher klangen nicht wie Geigen, sondern wie elektrische Blitze. Nicht immer allerdings waren die unendlich vielen Pianissimo-, Dolcissimo- und Espressivo-Forderungen geheimnisvoll oder tröstend genug zu hören. „Sie dürfen nicht wie Opernsänger singen“, hatte Verdi für die Solist:innen gefordert. Das machte es Stöppler leicht, aus den Vieren individuelle Persönlichkeiten zu schaffen, denen sie Farben gab: Gelb der ängstlichen und sehnsuchtsvollen Sopranistin (Barno Ismatullaeva), Blau der nach ihrer toten Zwillingsschwester suchenden und tröstenden Altistin (Monika Walerowicz), Weiß dem leichtfertigen Tenor (José Simerilla Romero) für den der Tod nicht existiert, und Schwarz dem schuldbewusst zusammenbrechenden Bass (Shavleg Armasi). Dazu sprechen die Sänger:innen die von Martin Muschler dazu geschriebenen, vom Requiem-Text wegführenden Texte in ihrer Muttersprache, die Sopranistin in Usbekisch, die Altistin in Polnisch, der Tenor in Spanisch und der Bass in Georgisch. Das setzt den Fokus einmal mehr auf die Individualität und damit auch aufs Publikum.
Stöpplers Arbeit überzeugt durch die Tiefenschärfe der Ideen und auch durch den zugelassenen Humor und die bunte Unterhaltung mit Luftballons und Confetti. Wie in allen ihren so leidenschaftlichen Musiktheater-Inszenierungen formuliert sie die Suche nach und den Kontakt mit dem Publikum. Da wird Gabriele d'Annunzio Ausspruch über Verdi – „Er weinte und liebte für alle.“ – zur verwandelten Steilvorlage. Was will Theater mehr? Nur Mehr von solchen Inszenierungen. Der Meinung war wohl auch das Publikum: anhaltende und stehende Ovationen mit einem oder zwei einsamen Buhs für die Regie.
Weitere Aufführungen: 5., 9., 12., 15., 18. und 21.6., 14. und 20.7.
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