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Die Notation am oberen Rand der Partiturseite hat Lisa Streich für das Werk „Flügel“ neu konzipiert. © G. Ricordi & Co., Bühnen- und Musikverlag Berlin. Weitere Werke von Lisa Streich unter www.ricordi.de oder www.lisastreich.se
Die Notation am oberen Rand der Partiturseite hat Lisa Streich für das Werk „Flügel“ neu konzipiert. © G. Ricordi & Co., Bühnen- und Musikverlag Berlin. Weitere Werke von Lisa Streich unter www.ricordi.de oder www.lisastreich.se
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Ernstfall „Neue Musik“ beim Festival „Visions“ in der Hamburger Elbphilharmonie

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Den Programmgestaltern in der Hamburger Elbphilharmonie ist es „wirklich ernst damit“, der Neuen Musik einen eigenen und umfangreichen Raum zuzugestehen. In neun Tagen konnte man bei dem Festival „Visions“ 19 Kompositionen hören, die in den letzten Jahren entstanden sind. Neue Musik ist vielgestaltig und teilweise ungewohnt – aber sie ist auch ein Teil unserer Zeit und von uns selbst.

Da machen Menschen sich Gedanken – und dann kommt alles anders als erwartet. Schon als Alan Gilbert zum Chefdirigenten des NDR Elbphilharmonie Orchesters gewählt wurde, schwebte ihm für Hamburg ein Festival für zeitgenössische Musik vor. Im Herbst 2019 trat Gilbert seinen Posten an, im März 2020 wurde der erste Corona-Lockdown ausgerufen. Auch Gilberts Festival-Initiative „Visions“ fiel 2021 Corona zum Opfer.

Die Festivalidee konnte aber über die Pandemie hinweggerettet werden. Vom 2. bis zum 12. Februar fand das Festival, das als Biennale konzipiert ist, nun erstmalig in der Elbphilharmonie statt. 19 Komponisten mit ihren Werken in neun Konzerten – „eine Momentaufnahme der gegenwärtigen Musik“, so Gilbert. Die meisten Kompositionen sind in den vergangenen fünf Jahren geschrieben worden und überall auf der Welt aufgeführt worden. Nun konnte man sie zeitlich konzentriert an einem Ort erleben.

Da machen Menschen sich Gedanken, planen und gestalten. Die bis dato gängigen Bezeichnungen „neu“, „modern“ und „zeitgenössisch“ werden nur höchst sparsam verwendet – man spricht von „Musik für das 21. Jahrhundert“. Schnell wird klar, wo das Problem liegt – Thomas Larcher erläutert es in einem der kurzen Talks während seines Konzertes: „Wenn man eine Musik zum ersten Mal hört, ist es immer neue Musik“ und erwähnt als Beispiele auch „alte Musik“, Bach und Mozart.

Neue Musik – alte Musik. Das Zauberwort ist „Hörerfahrung“. Unsere Hörerfahrung ist quasi von Mutterleibe an mit alter Musik, Bach, Mozart bis hin zu den Romantikern geprägt. Eine Musik, die sich stringent weiterentwickelt hat, irgendwie auseinander hervorgegangen ist, erklärtermaßen aufeinander aufbaut, eine Art großen konsistenten Stilcluster bildet. Man kann es sich wie eine Infektion mit dieser Musik vorstellen, die nach ihrem Abklingen eine Art Grundimmunisierung zurückgelassen hat. Wenn wir also Mozart hören, müssen wir nicht mehr erkranken oder weglaufen.

Neue Musik (= Musik für das 21. Jahrhundert) ist da in seinen musikalischen Materialien und deren Verarbeitung wesentlich weiter aufgefächert, diverser und oft nicht nur beim ersten Zuhören undurchsichtiger und damit unverständlicher. Um vor dem Weglaufen zu impfen bräuchte man hier mehrere unterschiedliche Impfstoffe, um die Palette abzudecken.

Für Gilbert und sein Team „ist es wirklich ernst damit“, der Neuen Musik, an die sie glauben, einen festen Platz im großen Konzertsaal einzuräumen. „Klar“, sagt er, „aktuelle Musik taucht verstärkt auf den Programmen der Orchester auf. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, dass es nur eine Art Feigenblatt ist: mal ein neues Werk, das mit Beethoven flankiert wird. Das klang immer ein bißchen nach: ‚Ja, wir kümmern uns – aber eigentlich spielen wir Brahms-Sinfonien in einem großen Konzertsaal‘“.

Mit dem Festival „Visions“ ist also nun der Ernstfall „Neue Musik“ Realität, ohne wenn und aber, ohne Bach und Mozart. Die Namen, die man sich fortan merken darf, sind: Lisa Streich, Brett Dean, Rebecca Saunders, Dieter Ammann, Sofia Gubaidulina, Jörg Widman, Kaija Saariaho, Thomas Larcher, Johannes Maria Staud, Isabel Mundry, Helmut Lachenmann, Georges Aperghis, Enno Poppe, Anna Thorvaldsdóttir, Hans Abrahamsen, Matthias Pintscher, James Dillon, Esa-Pekka-Salonen und John Adams.

Jeder dieser Namen steht für einen gelegentlich sehr eigenwilligen eigenen Stil, der einen eigenen Impfstoff benötigt. Streich „schreibt das, was ich hören will, was ich woanders noch nicht gefunden habe“. Anne-Sophie Mutter sagt über Gubaidulina, die sich ungern selbst über ihre Werke äußert, sie sei „verkopft, aber ohne dass dieser Kopf je im Vordergrund steht“. Damit spielt sie wohl auf die mathematischen Konzepte an, die Gubaidulina ihren Kompositionen oft zugrunde legt. Lachenmanns Dreh- und Angelpunkt seines Stils sind Klänge, die vom konventionellen, als „schön“ empfundenen Sound der Instrumente abweichen. Enno Poppe: „Ja, meine Besetzung erinnert an eine Bigband, aber ich habe sie vom Staub befreit“. Adams weiß nach seiner Beschäftigung mit Arnold Schönbergs Zwölftonlehre: „Nein, so will ich nicht komponieren“.

19 Kompositionen repräsentieren also quasi 19 Personalstile. Nicht jeder dieser Stile ist beim ersten Hören durchschaubar bzw. durchhörbar. Nicht jeder dieser Stile ist beim ersten Hören erträglich. Nicht jeder dieser Stile macht Lust auf mehr. In jedem Fall gilt aber: de gustibus non est disputandum! Denn tatsächlich ist der freundliche Applaus am Ende eines jeden Werkes da, die Meinungen aber gehen sehr wohl auseinander.

Nicht alle Zuhörer sind so freundlich, wie die Dame (so um die 50 Jahre), die kurz vor dem ersten Konzert sagte: „Wenn ich in ein so renommiertes Haus wie die Elphi gehe, dann denke ich erst einmal: ‚Oh, das höre ich mir mal an‘“. Aus NDR-internen Kreisen konnte man vernehmen, dass sich in den Jahren, seit es die Elbphilharmonie gibt, die Gruppe derer, die an Neuer Musik interessiert sind, merkbar vergrößert hat. Dennoch waren unter den Festivalzuhörern zahlreiche Stimmen – absolut unaggressiv und trotzdem durchaus interessiert –, die meinten: „anstrengend“, „dröhnend“, „sagt mir, was die rauchen, das will ich auch“, „viel zu laut“, „schmerzhaft“ und „scheppernd“.

Andere sprachen von wunderbaren Bildern, die sich beim Zuhören in ihrer Phantasie eingestellt hätten und manche bewunderten die Höchstleistungen der Musiker und vor allem der Dirigenten. Selbstverständlich gab es auch eine erquickliche Menge wissender Insider. Die Meinungen zu ein und demselben Stück konnten bei zwei Personen auch durchaus konträr sein. Fazit: ein großes, buntes und vielfältiges Festival.

Trotzdem mag die Frage – auch im Hinblick auf die nächste Biennale – erlaubt sein, was denn gefehlt haben könnte. Ganz eindeutig eine umfassende „pädagogische“ Handreichung für die Zuhörer. Sicher kann man sich einfach auf die Musik einlassen und wird darin viele Dinge bis hin zu Gefallen und innerlicher Befriedigung finden. Die verwendeten Materialien und Techniken sind so divers, dass viele Konzertbesucher sie nicht immer sofort verstehen können. Hier ist eine gute Heranführung auch ein Stück Weg zu einem intensiveren Konzerterfolg.

Die kurzen Talks mit den Komponisten während der Konzerte – leider oft in schwer verständlichem Englisch – können das nicht leisten. Die anwesenden Komponisten sind letztlich nur der Garant dafür, dass es sich bei den Werken – wie Reinhard Mey es nennt – um ein „Stück Musik von Hand gemacht“ und „von einem richt’gen Menschen mit dem Kopf erdacht“ handelt. Eine wichtige Erkenntnis im Zeitalter von KI und ChatGPT.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Neue Musik ist überhaupt nicht nur eine Welt für Musikologen, aber es ist an der Zeit, dass die Musikologen verstehen, dass sie nur eine Hilfswissenschaft für das Publikum sind. Ihr Platz ist vor dem Publikum und nicht im Elfenbeinturm. Hörhilfen sind gefragt, um Hörerlebnisse aufzubauen, die zu Hörgewohnheiten werden können. Ja, das geht auch in der Neuen Musik.

Die Stückauswahl des Festivals ist reichhaltig und bunt – allerdings begrenzt auf das klassische Sinfonieorchester. Es fehlt hier alles, was in dem Bereich der elektronischen Musik geschieht. Ebenso fehlt der Bereich der Kammermusik. Stauds „Im Lichte II für zwei Klaviere“ und Salonens Streichquartett „Homunculus“ kann man nicht als ausreichend repräsentativ für diese kleineren Besetzungen betrachten.

Last but not least: zeitgenössische Musik hat möglicherweise auch einen direkten Bezug zu den Zeitgenossen. Wolfgang Amadeus Mozart soll gesagt haben: „Die Musik steckt nicht in den Noten, sondern in der Stille dazwischen“ und Arvo Pärt weiß, dass das Wichtigste „in meiner Musik die Pausen“ sind. Wenn also diese „Momentaufnahme der gegenwärtigen Musik“ uns lebende Menschen widerspiegeln sollte, dann wird es Zeit, wach zu werden. Pausen gab es wenige – nicht in den Konzerten und nicht in den Kompositionen. Wenn dieses Ununterbrochene und Maschinenhafte in der Musik und das fast Roboterhafte im Dirigieren von Enno Poppe Ausdruck der Wesen unserer Zeit sind, dann stehen wir fraglos kurz vor einem Kollaps. So könnte die Musik dieser Biennale – wenn wir denn zuhören würden – Erkenntnis und vielleicht danach Einsicht und Heilung bringen.

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