Vor seinem Intendanz-Wechsel an das Niedersächsische Staatstheater Hannover im Sommer 2025 zeigt Bodo Busse in der vorletzten Musiktheater-Produktion des Saarländischen Staatstheaters Saarbrücken unter seiner Leitung in Reinkultur, worauf es ihm ankommt: Sichtweisen mit Relevanz und eine hoch aufregende Synergie von Musik und Szene mit einem starken Ensemble. Krystian Lada hat seine Regie und bezwingende Video-Arbeit der Koproduktion von Jacques Offenbachs genialem Fragment-Steinbruch „Hoffmanns Erzählungen“ nach der Serie an der Oper Göteborg 2022 für Saarbrücken mit Akribie und Sensibilität modifiziert. Auch dort erlebt man jetzt ein faszinierendes Hybrid aus Mysterienspiel und Apokalypse zwischen E. T. A. Hoffmann und Houellebecq. Sébastien Rouland und das Saarländisches Staatsorchester liefern dazu einen elegisch-bizarren Offenbach-Sound der Extraklasse, den man gehört haben muss.

„Hoffmanns Erzählungen“ am Staatstheater Saarbrücken. Foto: Martin Kaufhold
Existenzielle Explosion aus Mysterium und Apokalypse: „Hoffmanns Erzählungen“ in Saarbrücken
Einer der stärksten Momente: In der Barcarole-Reminiszenz vor dem Schlussakt sieht man im Video die riesenhaft vergrößerten Augen eines Hoffmann mit langsamen, schweren Tränen über alles Leid an der Welt, an Beziehungen, an der Liebe und enttäuschten Hoffnungen. Davor vereinigten sich in einer vom Orchester befeuerten, aber auch qualvoll verzerrten Ekstase drei Hoffmann-Figuren mit der eiskalt verführerischen Giulietta. Der letzten Frauengeschichte aus dem von Offenbach zur „phantastischen Oper“ konzentrierten Pseudo-Biographical kann nur noch psychische Leere und Dauerdürre folgen. Diese erlebt hier nicht nur ein einziger Hoffmann-Interpret wie sonst, sondern drei Tenöre in der subtil geschichteten Riesenpartie. Der polnische Regisseur Krystian Lada verdreht die Figurenkonstellation aus dem Textbuch von Henri Meilhac und Ludovic Halévy also total und kommt damit zu einer neuen, aber nicht minder fatalen Bedeutung wie das der Oper zugrunde liegende Schauspiel von Jules Barbier und Michel Carré.
Tatsächlich gleicht der hier nicht von einer knalligen Studentenschaft, sondern einer aggressiven Sportcrew in die Spießrutenzange genommene Hoffmann mit verschlampten Bademantel, in dem man laut dem preziösen Ferdinand von Schirach nicht schreiben soll, jenem von sich und der Welt versehrten Schreibpessimisten, als welcher sich der humanistische Dystopist Michel Houellebecq gern in Szene setzt. Marian Nketiahs Schauplatz aller Akte ist ein Filmstudio im Wechsel von fertigem Filmprodukt, Dreh und Arrangement. Ladas meisterhafte Videos und seine Spielhandlung ergänzen sich. Die am Rauchen und Singen sterbende Antonia lebt auf einem Hausboot an der Saar, der abschließende Schlagabtausch zwischen Muse und Hoffmann ereignet sich auf den Hügeln um die Hauptstadt des Industrie-Hotspots.
Es ist eine bildgewaltige und den Rahmen einer Rezension sprengende Inszenierung, von der hier nur einige Koordinaten erwähnt werden können. Die Muse und die vier ‚Bösewichter‘ treten als nackt-monströse Ureltern Hoffmanns ins Geschehen. Diese Karikaturen Adams und Evas kommentieren zynisch die scheiternden Beziehungsversuche des nicht je nach Akt wechselnden, sondern multipel durch das Stück wandernden Hoffmann. Jon Jurgens, Peter Sonn und Algirdas Drevinskas haben als dreifaltiger Hoffmann natürlich ein viel weiteres Vokalspektrum als jeder noch so schön singende lyrische Tenor, ganz zu schweigen von den düsteren Darstellungen von Sprödig- und Verletzlichkeiten. Clara-Sophie Bertram trumpft als Muse immer wieder mit tröstender bis gleißend autoritärer Stimme auf. Toll geraten ihr die Violine-Romanze, die Olympia-Couplets und alles andere. Peter Schöne singt Dappertuttos Diamantenarie so gefährlich suggestiv wie noch keiner seiner Kollegen im 21. Jahrhundert. Wie in Düsseldorf vor kurzen wurde ein Großteil des Lindorf-Parts im ersten Akt gekürzt, hier aber der Dämon im Frack als alter, noch nicht erlösungswilliger Adam inthronisiert.

„Hoffmanns Erzählungen“ am Staatstheater Saarbrücken. Foto: Martin Kaufhold
Trotz Gegenwarts- und Regionalbezug wird es nicht nur am Ende von Ladas Regie extrem katholisch. Hoffmann blickt übers Saarland wie der von Satan versuchte Jesus, die Frau geleitet ihn nach oben wie Beatrice den ultrachristlichen Jenseits-Visionär Dante ins Paradies und vor allem wird aus der Puppe Olympia vor lüsternen Kirchenpatronen eine Frauen-Ikone mit Kinderwagen und Madonnen-Attributen. Am Ende singen Soli und der von der Regie außer im Sportclub marginal behandelte Chor (einstudiert von Mauro Barbierato) die wunderbare Leid-Hymne doppelt, aber auch noch niederschmetternder. Und natürlich ist Giulietta im Disco-Club eine eiskalte Schöne mit verheißungsvollen Hitzespitzen. Kein Ausweg also möglich aus der zweischneidigen Philosophie-Klinge. Liudmila Lokaichuk wirft sich als blonde und durchaus der Ikone Marilyn M. ähnelnd in ihre Projektionsfigur-Aufgabe und gestaltet den zentralen Frauenpart äußerst ungewöhnlich. Sie wechselt die Farben nicht mit den Akten, sondern ständig. Eine so warme Olympia hat man ebenso selten gehört wie eine derart zwischen Unschuld und Abgrund wechselnde Giulietta und eine so versachlicht leidende Antonia. Eine große Leistung mit nüchternen Kostümen (Bente Rolandsdotter) und einem Orchesterklang zwischen Massenet und Hitchcock.
GMD Sébastien Rouland gestaltet mit delikatem Brio. Schon ab Prolog-Chor der Stimmen aus den geistigen Getränken setzt Rouland immer wieder Tränen in den Klang, welche den Hoffmann-Figuren eigentlich erst viel später kommen. Immer wieder greifen die Instrumentalfarben in Richtung jener Nachtstücke, als deren Spezialist E.T.A. Hoffmann von der Berliner über die schwarze bis zur bizarren und naiven Romantik gerühmt wird. Der Barcarole-Techno ist ein perfider Gag, weil Rouland und das Orchester aus Offenbachs Partitur danach ein pervertiertes Tableau von mysteriöser Schwärze und Lüsternheit holen - immer mit souveräner Stilkundigkeit und und sensorischer Wachheit. Auch ohne diese Wahnsinnsleistung wäre Ladas leidvoll zerrissene Dystopie ein bewegender Wurf, aber durch die musikalische Intelligenz und Verve gerät er zur existenziellen Explosion. Daran haben auch Dustin Drosdziok in den zum Aufnahmeleiter transformierten ‚Dienerfiguren‘, Hiroshi Matsui als soigniert autoritärer Crespel und die ihre Miniaufgaben mit großer Präsenz ausfüllenden Sänger der kleineren Partien ihren Anteil. Dieser Abend ragt einer Menge von methodischen Schablonen aktueller Opernregie heraus, weil er einiges riskiert, an die Grenzen geht und diese in kongenialer Verblendung ausreizt – ohne Offenbachs geniale Musik zu beschädigen.
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