Wer hat Angst vor Neuer Musik? Eigentlich doch jeder, mit Ausnahme ihrer Macher und einer Hand voll eingeweihter Hörer. Diese Meinung scheint nicht auszurotten zu sein – schließlich verlässt so mancher Abonnent noch immer selbst bei Strawinsky türenknallend den Raum. Experimentelles bleibt elitär; was größere Massen und jüngere Generationen erreicht, büßt anbiedernd den Charakter des verunsichernden Vorstoßes ins Unvertraute ein.
Wer hat Angst vor Neuer Musik? Eigentlich doch jeder, mit Ausnahme ihrer Macher und einer Hand voll eingeweihter Hörer. Diese Meinung scheint nicht auszurotten zu sein – schließlich verlässt so mancher Abonnent noch immer selbst bei Strawinsky türenknallend den Raum. Experimentelles bleibt elitär; was größere Massen und jüngere Generationen erreicht, büßt anbiedernd den Charakter des verunsichernden Vorstoßes ins Unvertraute ein. Doch es gibt Initiativen, die völlig andere, ermutigende Erfahrungen ermöglichen. „Fünf Fenster“ nennt das Berliner Kairos-Quartett seine noch bis Juni in der Kulturbrauerei laufende Konzertreihe, öffnet sie für Schlaglichter ausgerechnet auf die altehrwürdige Gattung Streichquartett, die sich in nach 1950 geschriebenen Werken – eigentlich ihrer Tradition entsprechend – als Brennpunkt des Innovativen, Wagemutigen erweist. Dies jedoch nicht als unzugängliche Avantgarde, sondern als Angebot zu mehrdimensionaler Kommunikation: auf der Ebene der Werke selbst in intelligenten, intensiven Interpretationen, im anschließenden, völlig unzensierten Meinungsaustausch zwischen Spielern, Komponisten und Publikum, im zwanglosen, doch von sinnvollem Gebrauch erzählenden Ambiente des alten Kesselhauses im Ost-Erbteil der Kulturbrauerei. Indem hier jeder Hörer, gleich welcher Vorbildung und Erfahrung, die Chance erhält, die eigene Wahrnehmung zu entdecken und ihr zu trauen, entsteht ein buntes Geflecht der unterschiedlichsten Aspekte, der wechselseitigen Anregungen.Der Begriff „Kairos“ entstammt der griechischen Mythologie und steht für die persönlich empfundene Zeit (im Gegensatz zum „objektiven“ Chronos), auch den „günstigen Augenblick“. Den scheinen die jungen Quartett-Mitglieder in der Tat immer wieder zu erwischen. Im Ensemble „work in progress“, wo sich die Bratschistin Simone Heilgendorff und der Cellist Claudius von Wrochem kennen lernten, entstand die Idee, einen Streicherkern zu bilden, ähnlich wie beim Ensemble recherche oder dem Klangforum Wien. Zwei Geiger holte man von außerhalb. Die Aufführung von Isabel Mundrys „No one“ anlässlich der Verleihung des Busoni-Preises 1995 lief dann so gut, dass der Gedanke an einen selbstständigen Klangkörper aufkam. „Work in progress“ existiert heute mangels Finanzierungsmöglichkeiten nur noch auf dem Papier, das Quartett blieb und fand 1997 mit den Geigern Wolfgang Bender und Chatschatur Kanajan seine endgültige Besetzung. Es widmet sich ausschließlich Musik des 20. und 21. Jahrhunderts; neben Uraufführungen stehen immer wieder auch richtungsweisende Kompositionen nach 1950 auf dem Programm, denen in der heutigen Uraufführungskultur die angemessene Rezeption häufig versagt bleibt. Dass Neue Musik es besonders schwer hat, weil sie mit ihrer Interpretation gleichgesetzt wird, ist vielleicht eine Binsenweisheit, die jedoch zu besonders engagierter Arbeit herausfordert. Dabei versucht man sich auf der Suche nach dem eigenen Profil von anderen Formationen stark abzugrenzen. „Wir wollen ja nicht alles spielen“, erläutert der Cellist von Wrochem, „jedes Ensemble versucht natürlich vor allem gute Musik zu spielen, die nicht nur im Moment irgendwie ankommt, sondern die auch in die Zukunft weist, Menschen länger beschäftigt, die es lohnt, mehrmals anzuhören. So interessieren uns etwa Stücke, die man der neuen Komplexität zurechnen kann; wir haben Klassiker der Moderne wie Luciano Berios „Sincronie“ oder György Kurtágs 1. Quartett auf CD eingespielt, also Meilensteine der letzten 50 Jahre, wir haben auch einige Auftragswerke mittlerweile vergeben, und das ist natürlich immer mit einem gewissen Risiko behaftet.“ Finanziell kann das Quartett dieses Risiko meistens nicht selbst tragen, doch zu Werken unter anderem von Richard Barrett, Mark Randall-Osborn, Conrado del Rosario ging von ihm immerhin die Initiative aus. Das Zweite Streichquartett des in Hamburg lebenden Ligeti-Schülers Xiaoyong Chen war dagegen ein „echter Auftrag“.
Der Förderpreis der Ernst von Siemens Stiftung 2000 ermöglichte ein ungewöhnliches Projekt: eine einwöchige Reise nach dem ukrainischen Lemberg, wo ein Werk des Ukrainers Alexander Shchetinsky einstudiert und uraufgeführt wurde. Hier fand eine Initialzündung statt; auch bei „nicht sehr kompromissvoller“ Musik von Berio oder Mundry war das bei allen Konzerten zahlreiche Publikum „völlig aus dem Häuschen. Solche Unvoreingenommenheit und Offenheit habe ich in Deutschland selten erlebt; und auch in Metropolen wie Moskau, wo das zeitgenössische Musikleben ein besonders hohes Niveau hatte, so erklärte man uns, wird sie immer seltener“, berichtet Simone Heilgendorff. Die defensive Haltung, sich für die Beschäftigung mit der so aufreibenden Randerscheinung „Neue Musik“ quasi entschuldigen zu müssen, hat sie dadurch endgültig ablegen können.
„Nicht alles spielen“ – das bedeutet auch, sich der Traditionslinie, die von Beethoven bis zu Schostakowitsch führt, eher zu verweigern. Einen Kompromiss stellt die Auseinandersetzung mit der Musik von Georg Friedrich Haas dar, mit dem die Zusammenarbeit paradoxerweise zurzeit am intensivsten ist. Denn zumindest im zweiten Quartett (1998) des Österreichers wird Dreiklangs-Schönheit „auf den ersten Blick“ derart eindeutig heraufbeschworen, „dass wir dachten, dass wir so etwas Konventionelles nicht unbedingt spielen müssen“. Wo sich das Unvertraute gerade im Gewohnten zeigt, ob nun die „reinen Klänge“ des Obertonspektrums oder ihre temperierten bis achteltönigen „Verschmutzungen“ als „schön“ zu empfinden sind oder gerade umgekehrt – diese Wahrnehmungen und Erwartungen schichten sich innerhalb eines ebenso minuziös abgestuften wie dramatisch-kontrastreichen Verlaufs immer wieder um. Auch der 1997 entstandene Quartett-Erstling, weitgehend in hektischen Bewegungen im „ewigen Schnee“ der hohen Flageoletts herumsausend und umso bestürzender in Dreiklangsflächen erstarrend, gab dem Publikum reichlich Assoziationsstoff. „Wie Autos auf einer Carrerabahn“ mutmaßte einer, was den Komponisten zur Darlegung der „maschinellen“ und „künstlichen“ Wirkung „natürlicher“ Klangspektren bewog, während seine Einführung neuen Materials zum Schluss von den Zuhörern nicht als „Ausblick“, sondern eher resignativ wahrgenommen wurde. Von dieser Diskrepanz hätte er ohne die Diskussion jedenfalls nicht erfahren.
Gänzlich andere Eindrücke vermittelte das Fenster „American Experimental Tradition“, das mit Werken von Robert Ashley, Earle Brown, Morton Feldman, John Cage und dem Gast Alvin Lucier viel über den unbefangen-kreativen Umgang mit Überkommenem aussagte – damit auch über das Selbstverständnis des Quartetts. Das 4. Fenster „Komplex“ wird an die Grenze des Wahrnehmbaren und Ausführbaren führen, mit Giorgio Nettis „)place(“ aber auch über die Brauchbarkeit zwischen die Saiten gesteckter deutscher und italienischer Telefonkarten zur Klangverformung Auskunft geben – die italienischen sind dünner. „Permutationen“ in minimalen Veränderungen von Klangflächen schließen die Reihe ab, unter anderem mit einer Mundry-Uraufführung. Bleibt nur zu hoffen, dass auch der Realisierung der nächsten Pläne – nach „Streichquartett pur“ ein multimedial aufgefächertes „Streichquartett plus“ – Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, gewogen sein wird.