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Dagmar Manzel. Foto: Monika Rittershaus
Dagmar Manzel. Foto: Monika Rittershaus
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Fingerübung als Saisonstart mit Schönberg und Beckett an der Komischen Oper Berlin

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Arnold Schönbergs Vertonung der Gedichte aus Albert Girauds „Pierrot Lunaire“ waren ein Auftragswerk der berühmten Schauspielerin, Rezitatorin und zeitweiligen Mitarbeiterin Cosima Wagners in Bayreuth, Albertine Zehme. Da Schönbergs Melodram nicht abendfüllend ist, wurde es in der Aufführungsgeschichte zumeist mit anderen Kompositionen gekoppelt. Die singende Schauspielerin Dagmar Manzel stellt nun an der Komischen Oper Berlin zwei kurze Monodramen von Samuel Beckett voran.

„Menschen strömen in meine Premieren, um meine Ansprachen zu hören“, konstatierte Hausherr und Regisseur Barrie Kosky nach der nur 70-minütigen Premiere zum Spielzeitauftakt an der Komischen Oper. Seine jüngste Inszenierung bezeichnete er als „Dagmar Manzels Wunschprojekt seit 40 Jahren“, welches bereits seit drei Jahren in Planung sei und somit keine Folge der Corona-Restriktionen darstelle.

Der Gedicht-Zyklus des belgischen Dichters Albert Giraud aus dem Jahre 1884 war von Otto Erich Hartleben ins Deutsche übersetzt worden und hatte eine wahre Pierrot-Flut ausgelöst, wozu etwa auch Erich J. Wolffs drei eigenen Pierrot-Schöpfungen als Melodramen zeugen (vgl. CTH2633/3). Aufgrund ihrer positiven Erfahrungen mit szenisch deklamierter Interpretation des Giraud-Liederzyklus von Otto Vrieslander (1880–1950), hatte Albertine Zehme Arnold Schönberg gebeten, originäre Melodramen für sie zu komponieren. Schönbergs Version (mit 21 der 50 Gedichte) wurde am 16. Oktober 1912 im Choralion-Saal in Berlin uraufgeführt.

In der Neuinszenierung an der Komischen Oper Berlin sind Schönbergs Melodram „Pierrot Lunaire“ zwei kurze Monodramen von Samuel Beckett (in der Übersetzung von Erika und Elmar Tophofen) vorangestellt, Nicht Ich“ und „Rockaby. In der Tat sind Becketts Texte durch ihren Rhythmus und durch ihre festgelegten Pausen eine Art von Sprechmusik, aus rhythmischen Satzfragmenten, Wiederholungen und stakkatoartigen Satzfetzen.

Bereits in der Uraufführung des ersten Beckett-Textes (aus dem Jahre 1972) war – der Intention des Dichters folgend – von der Interpretin, der Filmschauspielerin Jessica Tandy, nur der Mund zu sehen. Auch bei späteren Aufführungen wurde der Körper der ausführenden Sprecherinnen mit Ausnahme des Mundes von schwarzem Stoff bedeckt.

In der aktuellen Gesellschaft, wo hingegen gerade der Mund der meisten Menschen mit Stoff bedeckt ist, erlebt der/die Zuschauende Becketts verbale Erinnerungsfetzen rund um ein traumatisches Erlebnis als eine Umkehrung.

Der offene Mund Dagmar Manzels ist auch das Titelbild des Programmhefts, welches die Komische Oper als einziges der drei Berliner Opernhäuser in gewohntem Umfang und in guter Aufmachung präsentiert. Noch offensiver zeigt die Halbprofilansicht auf der Werbepostkarte der Komischen Oper Berlin zu ihrer ersten Premiere der Saison Lippen, Zähne und Zunge: der Mund der monodramatischen Akteurin gemahnt hier an die Pop-Welt der Rolling Stones.

Der zweite Beckett Text, dessen Titel als „Schaukelstuhl-Wiegenlied“ übersetzt werden kann, zeigte bei der Uraufführung im Jahre 1981 in Buffalo eine alte, sterbende Frau im Schaukelstuhl. In der Neuinszenierung wird die Protagonistin mit einer Aufnahme ihrer eigenen Stimme konfrontiert. Auf der ansonsten leeren Bühne wippt Dagmar Manzel im Schaukelstuhl, wobei das „mehrfache Innehalten der Schaukelbewegung […] wie ein kurzer Herzstillstand“ wirken soll. Eingeleitet und getrennt werden die Texte durch elektroakustische Sturm- und Glockenschlag-Einspielungen.

Auch „Pierrot Lunaire“ spielt im leeren Bühnenraum mit angestrahlter Arbeitsgalerie (Bühnenbild: Valentin Mattka). Dagmar Manzel, nunmehr im Matrosenkostüm, anstelle des traditionellen weißen Pierrot-Kostüms (Kostüme: Katrin Kath), zieht ein weißes Holzbett von hinten nach vorne und bespielt einen kleinen Teddybären als besagten Pierrot. Mal liegend, mal auf der Bettrückwand sitzend, sich Luft in den offenen Mund fächelnd, mit ihren als Rosenfaltern ausgestreckten Fingern und der Geste des Gehängten, bebildert die die Textabfolge. Schließlich stellt sie den Schaukelstuhl aus „Rockaby“ auf das Bett. Darauf sitzend, wird sie bei „O alter Duft aus Märchenzeit“ von vier Spots kreuzförmig angestrahlt und setzt mit stummen Lippenbewegungen, während das Licht auf die Instrumentalisten bereits erloschen ist, das Spiel im Sinne eines Bogenschlags zu den beiden vorangegangenen Monodramen fort.

Schönbergs Notation beruht bekanntlich auf Engelbert Humperdincks Erfindung der Melodram-Noten in der Urfassung der „Königskinder“. Die von Schönberg verlangte, antirealistisch exaltierte Sprechweise, eine Deklamation zwischen Sprechen und Singen, wird von Dagmar Manzel trefflich umgesetzt und ist – dank der Mikroport-Verstärkung – auch immer gut über dem Instrumentarium zu hören.

Als begleitenden Klangkörper nutzt der Komponist acht Instrumente für fünf Musiker in verschiedenen Kombinationen als Solo-, Duo-, Trio-, Quartett- und Quintett-Besetzungen, bis in der Schlussnummer alle acht Instrumente zusammen erklingen.

Die fünf Mitglieder des Orchesters der Komischen Oper Berlin sind nicht – wie bei der Uraufführung hinter Wandschirmen verborgen, sondern im halb hochgefahrenen Orchestergraben gut sichtbar. Unter der musikalischen Leitung von Christoph Breidler machten sie – „erstmals seit sechs Monaten“ (Barrie Kosky) wieder zusammenspielend – ihre Sache gut. Der Applaus, insbesondere der anwesenden Manzel-Fans, hielt sich angesichts der Corona-bedingt wenigen Besucher*innen-Plätze in Grenzen.

Entgegen der bei Beckett und Schönberg vorherrschenden, gedrückten Stimmung und „genug Lamenta in der echten Welt“ plädierte Kosky in seiner launigen Schluss-Ansprache für „die Bühne als Raum für Entertainment, Lachen und Luxus“ und „Kunst als Fressen für die Seele!“ Somit sei seine Antwort auf Corona – „Offenbach!“ (Damit nahm er Bezug auf die demnächst folgende, große Premiere der „Großherzogin von Gerolstein“). Und Koskys Fazit: „Scheiß Virus, wir machen weiter!“

  • Weitere Aufführungen: 5., 11., 13., 30. Oktober und 6. November 2020.

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