Es ist bester Bregenzer Brauch, dass „drinnen“, neben der Seebühne, eine „Opern-Orchidee“ erblühen darf, ein sonst kaum auf einer Bühne zu erlebendes Werk der Opernliteratur. Die einst in Italien studierende Intendantin Elisabeth Sobotka hat sich zu ihrem Abschied Gioachino Rossinis seriösen Erstling „Tancredi“ von 1813 gewünscht.
Gangster singen Koloraturen – Rossinis „Tancredi“ als zweite Premiere im Bregenzer Festspielhaus
Diese Werk-Wahl brachte etliche Herausforderungen mit sich. Da war lange vorher zu entscheiden, ob das glückliche Ende aus der Uraufführung im Venedig der Faschingszeit, dementsprechend mit der Vereinigung der Liebenden oder das der anschließenden Fastenzeit in Ferrara gemäße tragische Ende mit Tancredis Tod zu wählen sei. Zusätzlich brachte das Engagement des Nürnberger Schauspieldirektors Jan Philipp Gloger einen dezidierten Akzent ein: Aus der Tatsache, dass Tancredi zwar ein kriegerischer Held ist, aber für einen weiblichen Contralto komponiert wurde, sah sich Gloger darin bestätigt, Tancredi und seine geliebte Amenaide als lesbisches Liebespaar inmitten einer konservativ katholischen Männerwelt zu zeigen. Zusätzlich verlegte Gloger die ohnehin heikle Handlung zwischen christlichen Rittern und womöglich heidnischen oder islamischen Sarazenen aus einem historischen Syrakus des Jahres 1005 in eine Mafia-Rivalität zwischen zwei Drogen-Familien von Hier und Heute – statt ethnisch-religiöser Problem-Inszenierung jetzt also Lesben-Liebe inmitten von Macho-Strukturen, gemischt mit Ehre- und Treue-Wahngebilden. Das alles ließ womöglich „wokes“ bis befremdlich gewolltes Thesen- und Bekenntnis-Theater befürchten.
In der Aufführung stellte sich binnen kurzem ein, dass der Geschlechtertausch Tancredis im Text weitgehend ohne „Umdichtung“ funktionierte – und auch im Spiel, wenn eine Anna Goryachova mit ihrer drahtig-eleganten Bühnenerscheinung eben eine Messer- und Pistolen-sichere Einzelkämpferin verkörpert. Die tragische Haupthandlung funktionierte also, weil die Verheiratung Amenaides mit dem Brutalo-Boss Obrazzano als Bekräftigung des neuen Clan-Bündnisses durch die illegitime Liebe zwischen Tancredi und Amenaide nur noch verstärkt wurde. Eitle Männergewaltrituale und mafiose Ehrentütelei im Kontrast zu jugendlich emotional überbordender Liebe – das kann sich sehr wohl in mal auftrumpfenden, mal gespreizten und dann herrlich süß-schwelgerischen Melodien bis hin zu klassisch belcantistischem Ziergesang äußern.
Rossinis damals höchst erfolgreiche Buffa-Ab- und opera-seria-Hinwendung war bei Mélissa Petits Amenaide und Goryachovas Tancredis in besten Kehlen. Auch die anderen vier Hauptrollen überzeugten. So entfaltete sich über Tancredis berühmtes „I tanti palpiti“ hinaus das, was ein führender Kunstkritiker schon 1813 dem neuen Komponisten-Star attestierte: „wunderschöne Kantilene, neuartige Kantilene, magische Kantilene, seltene Kantilene“. Das wirkte auch nicht als rampennahes Sängerfest, weil Ben Baur auf der bühnengroßen, langsam kreisenden Drehbühne einen heruntergekommenen Palazzo gekonnt aufgefächert hatte, dessen vielfältige Räume von Küche über Mädchenzimmer zu Saal, Kapelle und Innenhof mit vielerlei Gängen sinnvoll bespielt wurden.
Doch dann verließ Regisseur Gloger und auch Dirigentin Yi-Chen Lin das Gespür für „Hier und Heute“. Wenn schon ein brutaler Anfangsmord an einem Polizisten hinzuerfunden wird und dem großen Kokain-Deal durch einen sich aus dem Bühnenhimmel überfallartig abseilenden SEK-Trupp ein Ende gesetzt wird und alle verhaftet werden – dann müssten Aktion und Musik in ein „Fetz-Peng“ münden. Doch nach der Pause setzte zelebrierte Langsamkeit ein, „endlose Melodie“ im falschen Sinn. Und dann auch noch Tancredis Tod als allzu ostentatives „Selbstbekenntnis“: er-sie sprüht auf das Laken ihres Liebesbettes zwei verheiratete „Venus-Symbole“, zückt die Pistole und lässt sich vom SEK erschießen – und schleppt sich dann endlos singend elend lang in einen anderen Raum. Schade – der einhellige Beifall wäre emotional munterer ausgefallen, wenn nicht allgemeine Ermattung …
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