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„Geborstene Einsamkeit“ – Beim Weimarer Kunstfest Pèlerinages suchen zeitgenössische Komponisten den Dialog mit Franz Liszt

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Unter der Ägide von Nike Wagner ist die neue Musik traditionell kein Stiefkind bei den Pèlerinages. Dass die aktuelle Festivalausgabe besonders reich an progressiven Tönen ist, hat jedoch mit häufig übersehenen Qualitäten ihres Protagonisten zu tun, dessen 200. Geburtstag in Weimar besonders inhaltsträchtig gefeiert wird.

 „Meine einzige Ambition als Musiker war und bleibt, meinen Speer in die unbegrenzten Weiten der Zukunft zu schleudern“, schrieb Franz Liszt der Fürstin Wittgenstein. Der gefeierte Klaviervirtuose tat dies vor allem in einem Spätwerk, dessen vergrübelter, jeder Formkonvention entsagender Reduktionismus seiner Zeit weit voraus war und das genaue Gegenteil von Liszts glänzender Virtuosenkarriere verkörpert. Unter dem programmatischen Motto „Visionen“ gaben sich vergangenen Samstag in Weimar fünf Komponisten aus Deutschland, Frankreich, Russland, Ungarn und Italien (also aus Ländern, in denen Liszt gelebt und gewirkt hat) die Ehre, den visionären Facetten des Liszt’schen Oeuvres zu huldigen, umrahmt von wirklich handverlesenen Stücken von Edgar Varèse, Morton Feldman, György Ligeti und natürlich dem Jubilar selbst. 

„Neue Klänge, weiche Sessel“ – wer sich vom latent blöden Untertitel der Veranstaltung nicht abschrecken ließ, erlebte in der Neuen Weimarhalle einen exzeptionellen Aufführungsmarathon, der das Durchhaltevermögen in vielerlei Hinsicht belohnte und gottlob nur hinsichtlich der Sitzgelegenheiten gemütlich zu nennen war. Die zunächst etwas gewöhnungsbedürftige „Lounge-Atmosphäre“ – optisch irgendwo zwischen Hotel-Lobby und Squash-Oase angesiedelt – entpuppte sich durchaus als Garant für entspanntes, aber konzentriertes Zuhören bis tief in den Morgen. Das „Line-Up“ war mit dem Klangforum Wien unter Silvain Cambreling, dem Ensemble Avantgarde und Pierre-Laurent Aimard (artist in residence) denkbar aufmerksamkeitsfördernd besetzt. 

Veritable „Zukunftsmusik“ war zwar nicht unbedingt am Werk, eher solide Neue Musik-Qualität, doch ließen fast alle Auftragskompositionen durch Intensität und individuelle Prägnanz aufhorchen. Keine Frage,  dass es vor allem Liszts Spätwerk war, auf das die geladene Kollegenschar abhob, was meist auf angenehm subtile Weise geschah und sich vordergründiger Anknüpfungen enthielt. 

Vladimir Tarnopolski, ein Urgestein der progressiven Musikszene Russlands, eröffnete mit dem überraschenden Vorsatz den Abend, am liebsten für das „große Publikum“ zu schreiben. Wer nun davon ausging, Tarnopolskis Worte wären die Ankündigung neo-romantischen Budenzaubers gewesen, sah sich allerdings getäuscht. Sein „Last and Lost“ verlieh der Pause ebenso viel Gewicht wie dem Klang und löste virtuose Lineaturen in fragmentarische Einzelimpulse und brüchige Konturen auf. Etwas verspielter gab sich der Ungar László Vidovszky. Als verkapptes Klavierquintett präsentierte „Reverb“ nicht nur eine Menge historischer Allusionen, sondern ein geradezu Fin de siècle-haftes Ende in unwirklichen Farben, düster und traumverhangen. Rastloser Unbequemlichkeit frönte Stefano Gervasoni in „Froward“, das mit blockhaften Kontrasten und Feldmanesken Wiederholungsschleifen aufwartete und nach mancherlei anspielungsreichem Tumult mit Klängen wie unter Milchglas endete.  

Die sicher radikalste und konsequenteste Konzeption des Abends war Mark Andre zu verdanken, dessen instrumentale Geräuschtexturen fast schon ein Markenzeichen geworden sind. „da“ bedeutete in dieser Hinsicht Hardcore-Andre, dessen introspektive Klänge sich unablässig an der Schwelle von Auflösung und Gestaltwerdung bewegten. Ein monochromes Klangbild mit feinsten Solo-Schraffuren und ephemeren Pulsationen, dessen Rauschen, Klopfen und Schaben gelegentlich aus verschiedenen Ecken des Raumes ins Zentrum des Hörens rückte. 

Als letzter im Bunde gratulierte Steffen Schleiermacher dem verkannten Visionär gleich doppelt: mit einer süffigen Instrumentierung von Liszts „La lugubre gondola“ und der Ensemblekomposition „Geborstene Einsamkeit“, die sich explizit der solitären Befindlichkeit des Adressaten in der Vereinzelung musikalischer Aktionen widmete. Das klang über weite Strecken wie eine Mischung aus Liszt und Feldman (dessen „Instruments II“ den Schleiermacher-Block eröffneten) und changierte dramaturgisch unberechenbar zwischen Ensemble-Punktualismus und Bratschenkonzert, bedeutungsschwanger verdickt mit  kunstphilosophischen Textrezitationen aus Liszts „Reisebriefen eines Baccalaureus der Tonkunst“.   

Für den großen Wachmacher zeichneten am Ende Pierre Laurent Aimard und das Klangforum Wien mit einer furiosen Darbietung von Ligetis bedauerlich selten zu hörendem Klavierkonzert verantwortlich. Ein virtuoser Abgrund, an dem Liszt seine helle Freude gehabt hätte.

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