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Geheimnis des Glaubens

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Uraufführungen 2016/05
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Die zu Ostern aufgeführten „Matthäus“- und „Johannespassionen“ sind gerade verklungen, und schon stehen Himmelfahrt und Pfingsten vor der Tür. Trotz überwiegend säkularer Gesellschaft gliedern die christlichen Fest- und Feiertage unseren Jahresrhythmus, und zwar nicht zuletzt mit Musik. Die Messen, Requien, Kantaten und Oratorien von Bach, Händel, Mendelssohn, Verdi, Bruckner, Brahms erklingen heute zwar häufiger im Konzertsaal als in der Kirche. Aber im Sinne der Kunstreligion des 19. Jahrhunderts entfalten sie immer noch dieselbe „gemeinschaftsbildende Kraft“, die Paul Bekker im Hinblick auf „Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler“ (1918) konstatierte.

Ähnliches gilt von den geistlichen Werken vieler zeitgenössischer Komponisten wie Strawinsky, Messiaen, Bernstein, Ligeti, Gubaidulina, Schnittke, Penderecki, Pärt, Vasks … Gemäß paläoanthropologischer Forschung dürften die Ursprünge von Musik in kultischen Handlungen unserer steinzeitlichen Vorfahren liegen, in Begräbnis-, Jagd-, Fruchtbarkeits- und Initiationsriten, bei denen unter anderem Knochenflöten geblasen wurden, wie man sie etwa in Höhlen der Schwäbischen Alb fand und auf ein Alter von 40.000 Jahren datiert.

Selbst heute scheint Musik und das mit ihrer Aufführung verbundene Konzertritual – andachtsvolle Stille bei verdämmertem Saallicht – vielfach noch gar nicht säkularisiert, sondern unbeleckt vom Licht der Aufklärung immer noch die „alte magische und kultische Gebrauchsfunktion“ zu erfüllen, wie Nicolaus A. Huber 1972 in seinem Essay „Kritisches Komponieren“ diagnostizierte. Später polemisierte Peter Niklas Wilson mit seinem Zwischenruf „Sakrale Sehnsüchte: Der Scelsi-Feldman-Nono-Kult“ gegen den allzu weihevollen Umgang mit Musik zentraler Heroen der Nachkriegsavantgarde. Und auch Helmut Lachenmann verwehrte sich dagegen, herausragende Werke des 20. Jahrhunderts wie etwa Nonos „Prometeo“ und auch sein eigenes Streichquartett „Gran Torso“ als eine Art „Wahrnehmungs-Pontifikalamt“ zu zelebrieren, sich gegenüber dieser Musik also bloß hörig zu verhalten, statt hellhörig!

Wie bereits andere Festivals der vergangenen Jahre fragt vom 30. April bis zum 10. Mai auch das Festival „Acht Brücken / Musik für Köln“ unter dem Motto „Musik und Glaube“ nach der Spiritualität von Musik. Auch und gerade in einer entzauberten, entmystifizierten, entgöttlichten Welt, scheint das Bedürfnis nach Glaube und Religion ungebrochen und sich womöglich durch Musik stillen zu lassen.

Neben Musik der russischen Komponistin Galina Ustwolskaja – deren lediglich 25 Stücke umfassendes Gesamtwerk nahezu komplett aufgeführt wird – sowie Musik aus Judentum, Sufismus, Buddhismus und Taoismus bietet das Kölner Festival geistliche und spirituelle Werke von Messiaen, Bernstein, Stockhausen, Schnittke, Radulescu, Steve Reich, John Adams, Harvey und Wolfgang Rihm. Hinzu kommen insgesamt sechzehn Uraufführungen. Allein drei Novitäten stammen von Toshio Hosokawa, die übrigen von Lubomyr Melnyk, Magdalena Zimmermann, Camille van Lunen, Jens Düppe, Peter Schanz, Christina C. Messner, Johannes Maria Staud, Matthias Pintscher, Antonio Covello, Farzia Fallah, Martin Smolka sowie von den drei Finalisten eines von einem Spezialchemiekonzern gesponserten Kompositionswettbewerbs. Ob und welche dieser Werke tatsächlich „Offenbarungen“ sind und Fragen nach Tod, Auferstehung und Jenseits beantworten, bleibt abzuwarten oder – auf die schöne katholische Gottesdienstformel gebracht – ein „Geheimnis des Glaubens“.

Weitere Uraufführungen:

04.5.: Helmut Oehring, AGOTA? Vokalinstrumentales Melodram, Hessisches Staatstheater Wiesbaden
06.5.: Louis Andriessen, Theatre of The World, Los Angeles
07.5.: Richard Dünser, Cangti notturni IV, Muziekgebouw Amsterdam
11.5.: Dieter Ammann, glut für Orchester, Tonhalle Zürich
12.5.: Tomasz Skweres, neues Orches-terwerk, Konzerthaus Wien
18.5.: Thierry Escaich, Oratorium Cris, Verdun
19.5.: Matthias Mohr, Musiktheater see you on the other side, Kunstfestspiele Herrenhausen, Orangerie Hannover

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