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„Terminus“ beim Bergen Festival. Foto: Erik Berg

„Terminus“ beim Bergen Festival. Foto: Erik Berg

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Gewitzte Dystopie und humanistische Internationalität: Neues Musiktheater beim Bergen Festival

Vorspann / Teaser

Norwegen ist in Sachen Neues Musiktheater gut vernetzt. Die trotz Chor relativ klein besetzte Oper „Terminus“ von Therese Birkelund Ulvo auf den dystopisch-grotesken Text von Marit Eikemo ist in der Regie von Maren E. Bjørseth ein breit aufgestelltes nationales Uraufführungs- und Koproduktionsprojekt. 

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Im Cornerteateret Bergen gelangte „Terminus“ am 28. und 30. Mai beim Bergen Festival mit dem Philharmonischen Orchester Bergen und dem Edvard Grieg Vokalensemble zur Aufführung. Mit gleicher Besetzung der Solopartien fand die Premiere bereits in Oslo statt, weitere Vorstellungen folgen in Trondheim. An jedem Aufführungsort wirken die dort ansässigen Orchester und Chöre mit. Ein kleines Wunder an Logistik also, zumal die Nationaloper Bergen mit nur knapp zehn Stellen für Leitung und Verwaltung alle Mitwirkenden inklusive Technikstab für je vier Vorstellungen von zwei Neuproduktionen je Spielzeit unter Vertrag nimmt. „Terminus“ wurde ein großer Erfolg – ebenso wie der Beginn des Bergen Festivals mit der seit 2024 international erfolgreichen ‚Kammeroper‘ „The Great Yes, The Great No“ des Artist in residence William Kentridge im großen Griegsalen. 

Der Traumraum der schönen Lola schockt durch ein kitschig abturnendes Einheitsrosa. Die grellblonde attraktive Frau hat und bekommt alles: Alkohol, smarte Drogen, einen Instagram-Kanal … Gefügiges Hotelpersonal liest ihr auf Zimmer 314 jeden Wunsch von den Augen ab und kommentiert das mit griffigem Funktionsvokabular. Weil es einfach geil ist und er auf sie wirkt, zerrt Lola den Hoteldirektor an seiner rosa Krawatte in ihr XXL-Bett und selfiet beider Spielereien. Alles trendgerecht: Niedlich, bizarr, transparent. 

Aber etwas stimmt nicht. Im grauen Außenraum wandern neben viralen Socialmedia-Gigs auch echte Viren. Außerhalb von Lolas schöner bunter Nische ist in der von Olav Myrtvedt realistisch gruselig hergerichteten Obdachlosengruppe eine Leerstelle. Das Hotelcrew-Duo verschwindet. Eine psychiatrische Wachmannschaft marschiert mit Kitteln und Plastikhandschuhen auf, als es der scharfen Lola durch zu viel Sex und Chablis fade wird und der Hotelmanager nach sexueller Überbetätigung in den Seilen hängt. Das war’s für Lola. Die Diagnose lautet: Posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Realitätsverlust. 

Die Figurenzeichnung der Regisseurin Maren E. Bjørseth ist satirisch, die situationsbezogene Pointensicherheit im mittelgroßen Cornerteaterert bestechend klar. Musik und Szene bewegen sich mit unaufgeregt gestischem Fluss vorwärts. Text- und Situationsverständlichkeit sind der Komponistin Therese Birkelund Ulvo (geb. 1982) für das knapp fokussierte Textbuch Marit Eikemos wichtiger als ästhetisierendes Wirkungskalkül. 

Ohne elektronische Krücken setzt Ulvo in tragfähigen 90 Minuten vom ersten mäßig dissonanten Akkord über viele Farben auf dramatische Sinnfälligkeit. Ulvo nimmt sich Zeit für ein langes Vorspiel, das aus skandinavischen Traditionslinien hervorzukriechen scheint und dabei Individualität entwickelt. Sie kann arios-deklamatorisch für Gesangsstimmen schreiben, ohne diese unter forcierenden Stress zu setzen. So gibt die wunderbar präsente Eli Kristin Hanssveen als Lola plastisch, virtuos und ein bisschen ordinär eine ins grausig quecksilbrige Influence-Zeitalter gebeamte Marilyn M. mit einem Gestus à la Lulu light. 

„Politiker:innen“-Stimmen von draußen lassen vermuten, dass Marit Eikemo eine pandemische Dystopie visionierte, in welcher die Droge Digitalität und Halluzinationen Schutz vor der bedrohlichen Physis anderer schaffen soll. Lola ist ein Versuchsballon für diese solitäre Existenz. Schwellen zwischen Lolas Visionen und dem Draußen sind durchlässig. Insofern erweist sich die Oper „Terminus“ (deutsch: „Endstation“) als für viele Assoziationen offen. Magnus Loddgard dirigiert mit sensitivem Pragmatismus die exzellente Streichergruppe aus dem Philharmonischen Orchester Bergen – dazu nur Flöte, Klarinette und Schlagwerk. Edvard Grieg Vokalensemble gestaltet eindrucksvoll die Verarmung und die Vermüllung. Tone Kummervold gibt die Hotelmitarbeiterin mit kabarettistisch funkelnder Ironie und einer von Witwe Begbick bis Verdis Mezzo-Heroinen gut einsetzbaren Stimmpräsenz. Magnus Staveland macht den Direktor zur blässlichen wie trefflich gesungenen Figurenhülse. Sakarias Fredriksen Tranvåg auf der Service- und Pflegerebene sowie Magne Fremmerlid als Arzt mit zweifelhaften Hypnosemethoden bereichern das treffsicher besetzte Ensemble um die Lolas Desorientierung lustvoll ausspielende Eli Kristin Hanssveen. Eine Assoziation zur norwegischen Nationalfigur des Jeppe von Berge aus dem Stück von Ludvig Holberg wird gesetzt, erweist sich aber als etwas weit her geholt. Das ändert nichts an der für die burleske Dystopie „Terminus“ überzeugend und unterhaltsam getroffenen Stilhöhe. 

Im Rahmen des Bergen Festivals wurden um eine vielseitige Konzertreihe also zwei zukunftsfähige Muster des Neuen Musiktheaters exemplifiziert. Zur Eröffnung gastierte die 2024 in Aix-en-Provence zur Premieren gelangte und bereits bei den Ruhrfestspielen gezeigte ‚Kammeroper‘ „The Great Yes, The Great No“ des Artist in resicence William Kentridge in der zweimal ausverkauften Grieghallen: Das spartenübergreifendes Fantasie-Spektakel über eine Schiffsreise von Marseille nach Martinique 1941 wurde auch in Bergen als Appell für Vielfalt und Toleranz gefeiert. Am anderen Pol zu Kentridges humanem Musiktheater-Credo für eine globale Kulturgemeinde steht „Terminus“ als Spiel über die Begrenztheit physischer Wahrnehmung und den zwangsläufigen Identitätsschwund im turbomedialen Zeitalter. Minimal zynisch zeigt „Terminus“, wie Neue Oper bestens funktioniert und ankommt, gerade weil sie ohne Elektronik, Video und intellektuelle Überfrachtung bei den ureigenen Mitteln des Theaters und des direkten Musizierens bleibt.

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