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Im Jazz vereint: Bundesjugend- und Bundesjazzorchester beim Festival Young Euro Classic in Berlin. Foto: Young Euro Classic/Kai Bienert
Im Jazz vereint: Bundesjugend- und Bundesjazzorchester beim Festival Young Euro Classic in Berlin. Foto: Young Euro Classic/Kai Bienert
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Grenzüberschreitungen zwischen Sinfonik und Jazz

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Im zehnten Jahr trotzt das Berliner Festival Young Euro Classic erfolgreich der Krise
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In jedem Jahr eröffnet eine neukomponierte Hymne die Konzerte des Festivals Young Euro Classic. Die Hymne dieses Sommers wirkte verhaltener und weniger triumphal als ihre Vorgängerinnen. Weil der mit dieser Aufgabe betraute Manfred Trojahn dem Hymnischen prinzipiell skeptisch gegenübersteht, entschied er sich – inspiriert durch das Rilke-Gedicht „Abendstraßen“ – für lyrische Innerlichkeit von gesanglichem Charakter.

Keine triumphalen, sondern sogar bange Töne hatte man vor Festivalbeginn auch aus dem Leitungsteam um Gabriele Minz gehört, denn wegen der Wirtschaftskrise flossen weniger Sponsorengelder als sonst. Bei einem Festival, das zu einem erheblichen Teil privat finanziert wird, kann dies erhebliche Einschränkungen bedeuten. Um dennoch den zehnten Geburtstag angemessen feiern zu können, wurde eine Spendenkampagne „2000 mal 30“ gestartet, die durch viele kleine Beiträge und die Mitwirkung des Berliner Kulturkaufhauses Dussmann schließlich zum Erfolg führte. Wie geplant konnten insgesamt 20 Veranstaltungen durchgeführt werden, zu denen trotz leicht angehobener Eintrittspreise 22.500 Besucher strömten. So bestand schließlich doch noch Grund zum Jubeln.

Am Anfang des Festivals vor zehn Jahren stand die Idee, das kulturelle Sommerloch in Berlin durch Gastspiele europäischer Jugendorchester zu füllen. Da diese Idee bei Musikfreunden und Musikern sofort zündete und sich auch Orchester aus anderen Regionen meldeten, wurde der Aktionsradius rasch auf Teilnehmer aus außereuropäischen Ländern ausgeweitet. Inzwischen erklärt man das „Euro“ im Festivalnamen nicht mehr aus der Mitwirkung europäischer Orchester, sondern aus der von Europa ausgehenden Orchesterkultur. „Young Euro Classic will zeigen, wie diese Kultur in alle Welt ausstrahlt und in den nationalen Färbungen zurückstrahlt.“ Bewusst ließ man sich in diesem Jahr zu Beginn Beethovens Neunte von jungen Japanern vorführen. Neben Japan und Deutschland waren ansonsten Dänemark, Österreich, Tschechien, Russland, die Türkei, China, Südafrika und Kanada vertreten.

Zu Young Euro Classic gehört die Mischung aus bekannten Meisterwerken und ganz neuen Kompositionen. Unter der künstlerischen Leitung von Dieter Rexroth bildet die zeitgenössische Musik einen Schwerpunkt. In fast jedem Konzert gibt es eine Uraufführung oder eine Deutsche Erstaufführung, verbunden mit einem sinfonischen Werk des 19. oder 20. Jahrhunderts und einem repräsentativen Werk des betreffenden Landes. Damit werden Brücken geschlagen zwischen verschiedenen Kulturen und Epochen. So spielte in diesem Jahr das Tokyo Geidai Symphonieorchester, das sogar zwei Konzerte gab, Werke von Beethoven, Hindemith und Prokofieff und den Japanern Yukiyo Takahashi und Toshio Hosokawa. Das umjubelte MIAGI Youth Orchestra aus Südafrika koppelte Dvoráks Symphonie „Aus der Neuen Welt“ mit einer Jazz-Fantasie des Südafrikaners Gideon Nxumalo. Während man bei früheren Festivals gelegentlich sehr anspruchsvolle Werke hörte, die Jugendorchester überforderten, achtete man in diesem Jahr stärker auf ein angemessenes Repertoire. Aus dem Rahmen fiel allerdings das kanadische Jugendorchester, das sich in zu kleiner Besetzung an die „Symphonie fantastique“ von Hector Berlioz heranwagte.

Auch bei den Interpreten stehen regelmäßig Prominente neben Unbekannten. Es gibt renommierte Ensembles wie das Schleswig-Holstein Festival Orchester oder das European Union Youth Orchestra und andererseits Klangkörper, die der Durchschnittshörer nicht einmal dem Namen nach kennt. Das treue und wissbegierige Festivalpublikum füllte auch dann den Großen Saal des Konzerthauses am Gendarmenmarkt, wenn nicht ein Vladimir Ashkenazy dirigierte. Wenn jeweils zu Beginn Mitglieder des gerade gastierenden Ensembles die Festivalhymne spielten, bekam man bereits einen Eindruck von dem zu erwartenden Niveau. So waren die Bläser des Orchestre Symphonique des Jeunes de Montréal von der Hymne spieltechnisch überfordert, während die des Tschechischen Jugendorchesters sie wie etwas Vertrautes angingen. Bei der Deutschen Streicherphilharmonie wirkten Trojahns „Abendstraßen“ wie ein elegischer Streicherchoral.

Dass auch Mendelssohns „Sommernachtstraum“-Ouvertüre ein spieltechnisch heikles Werk ist, erwies sich beim Debüt des Orchestre Symphonique des Jeunes de Montréal (Leitung: Louis Lavigueur); die einleitenden Bläserakkorde klangen hölzern und starr, die schnellen Streicherfiguren verwackelt. Als deutsche Erstaufführung folgte „Le jardin mysterieux“, eine impressionistische Petitesse von Denis Gougeon. Einen Lichtblick bildete an diesem Abend das Mendelssohn-Violinkonzert mit dem in Hannover ausgebildeten ukrainischen Geiger Andrej Bielow, der schon 1999, gerade 18-jährig, Preisträger beim Münchner ARD-Wettbewerb wurde. Er begann tastend, gleichsam wie improvisiert, um erst allmählich in den Fluss hineinzufinden. Von zerbrechlicher Schönheit war seine Wiedergabe des Andante-Satzes, in dem sich auch das Orchester um Zartheit bemühte. Jenseits des Formschemas ging der Geiger ganz vom romantischen Geist dieser Musik aus und sorgte so für eine umjubelte Interpretation.

Wien – Prag

Das Wiener Jeunesse Orchester, geleitet von Herbert Böck, und das erst 2000 gegründete Tschechische Jugendorchester unter Marko Ivanovic, die schon mehrfach bei Young Euro Classic gastiert hatten, überzeugten wieder durch ihren hohen Standard. Während aber die Tschechen mit Werken von Martinu, Dvorák, Horinka und Janácek kulturelle Nabelschau betrieben, verzichteten die Wiener ganz auf „ihre“ Klassiker und spielten stattdessen Leonard Bernsteins „Candide“-Suite, Dvoráks Symphonie Nr. 8 und ein neues Werk des Burgenländers Helmut Hödl. Bei der Bernstein-Suite glänzten die beweglichen Holzbläser der Wiener, die auch im langsamen Satz der Dvorák-Symphonie durch ihr weiches und kontrolliertes Piano auffielen. Zwei Trompeterinnen eröffneten kräftig das Finale. Es schloss eine Wiedergabe ab, die durch die ausgewogene Balance von großer Klangpracht und intimer Lyrik überzeugte. Die Tschechen setzten stärker auf die (hier zumeist männlichen) Blechbläser. Das Orchester-Rondo „Half-Time“ von Bohuslav Martinu, dem der vor 50 Jahren verstorbene Komponist seinen Durchbruch verdankte, wurde ebenso von hohen Trompeten dominiert wie Janáceks zwei Jahre später entstandene „Sinfonietta“, die sich – passend zu den gleichzeitigen Leichtathletik-Meisterschaften – ebenfalls einem sportlichen Anlass widmete. Eine begleitende Funktion übernahm das Orchester dann bei Dvoráks Cellokonzert, das der 24-jährige Tomás Jamnik eher lyrisch als dramatisch auffasste, wobei sein ruhig entspanntes Spiel gelegentlich in Spannungslosigkeit überging.

Die neue Religiosität, die bislang vor allem in Polen, Russland und den baltischen Staaten zu beobachten war, greift offenbar auch in Tschechien um sich. So wählte sich Slavomír Horinka die schon vom späten Brahms vertonten Worte „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete …“ aus dem Korintherbrief als „ideologische und strukturelle Basis“ für seine neueste Komposition, deren Titel „Das Herz soll eine Fackel sein“ pathetische Hymnik erwarten ließ. Umso mehr überraschte dann die ausgefeilte und keineswegs klischeehafte Klangdramaturgie und der spannende Wechsel von Tutti und Soli. Helmut Hödls „Sing sing sing. A Tribute to Benny Goodman“ für Klarinettenquartett und großes Orchester gebärdete sich progressiver, überzeugte aber nicht durchweg. Gegen die rhythmischen Ostinati des Orchesters, vor allem der Perkussionsinstrumente, konnte sich die meist en bloc eingesetzte Solistengruppe nicht immer durchsetzen.

Als ein Festivalhöhepunkt war das Konzert des European Union Youth Orchestra unter Vladimir Ashkenazy mit der Solistin Natalia Gutman anvisiert, das aber die hohen Erwartungen nicht erfüllte. Schon die einführenden Worte einer ahnungslosen Patin, die marktschreierisch ein „All Star Team“ unter einem Stardirigenten ankündigte, sorgten für Missmut. Nicht das Orchester, sondern die Interpretationen enttäuschten. Ashkenazy wirkte bei der Neunten von Schostakowitsch ratlos und ging danach prompt über die falsche Treppe ab. Natalia Gutman spielte Schostakowitschs Cellokonzert Nr. 1 so routiniert, als sei sie weder am Werk noch am Publikum interessiert.

Dagegen stimmte jedes Detail bei der überwiegend weiblich besetzten Deutschen Streicherphilharmonie, obwohl ihr „nur“ Musikschüler im Alter von 11 bis 19 Jahren angehören. Michael Sanderling, der ohne Podest und ohne Taktstock auskam, sorgte in Brittens „Simple Symphony“ für eine plastische Gliederung, die auch noch im Pianissimo nicht an Deutlichkeit verlor. Die aus der Ukraine stammende Asya Fateyeva war mit ungewöhnlich warmem und voluminösem Ton die zu Recht gefeierte Solistin im Saxophonkonzert von Alexander Glasunow. Als neues Werk spielte die Streicherphilharmonie „Yellow clouds“ von Bernd Franke, der sich nicht erst seit seinen Begegnungen mit Leonard Bernstein und Oliver Knussen für Popularmusik interessiert. Für die Streicherphilharmonie schuf er eine maßgeschneiderte Hommage an den schwedischen Jazzmusiker Esbjörn Svensson, die aus dem Gegensatz von Statik und Dynamik lebte.

Annäherung an den Jazz

Wie die Jazz-Fantasie des Südafrikaners Gideon Nxumalo und Hödls „Sing Sing Sing“ öffneten Frankes „Yellow Clouds“ eine Tür von der Symphonik zum Jazz, der bislang bei Young Euro Classic nur eine Nebenrolle gespielt hatte. Dass diese Musikart beim diesjährigen Festival so prominent vertreten war, lag wohl auch an der Programmplanung des Bundesjugendorchesters. Zusammen mit dem Bundesjazzorchester reiste es von Berlin zu Konzerten und Workshops nach Südafrika weiter. Der Partner dort war die Organisation MIAGI („Music is a great investment“), deren Orchester in diesem Sommer in Berlin mit fünfzehnminütigen Ovationen gefeiert wurde. Mit diesen Auftritten wollten die deutschen Musiker eine Brücke schlagen zwischen Klassik und Jazz. Die derart demonstrierte grenzüberschreitende Kraft von Musik sollte zwanzig Jahre nach dem Mauerfall zugleich auf das Zusammenwachsen Deutschlands hinweisen. Das hier geschnürte Symbolpaket, zu dem weniger passend auch noch die Erinnerung an 60 Jahre Grundgesetz gehört, war ein Teil des kulturellen Vorprogramms der Fußballweltmeisterschaft 2010 in mehreren Städten Südafrikas.

Beim gemeinsamen Berliner Auftritt von Bundesjugendorchester und Bundesjazzorchester begnügte man sich unter der Leitung von Dennis Russell Davies mit den musikalischen Aspekten. Während das MIAGI-Orchester der Dvorák-Symphonie eine neukomponierte Jazz-Fantasie entgegengesetzt hatte, ging es nun ausschließlich um Beispiele eines dritten Weges zwischen Klassik und Jazz. Am Anfang des überlangen Programms stand Gershwins „Rhapsody in Blue“ in der Original Jazz-Band-Version von 1924; mit Dennis Russell Davies am Klavier wirkte sie aber recht steif und akademisch, als sollte das Erfolgsstück als ein Exempel bereits klassischer Musik vorgeführt werden.

Es folgten nicht weniger als drei Uraufführungen, die ebenfalls zwischen beiden Musikwelten vermittelten. Moritz Eggert kontrastierte in „Illumination“ starre Marschrhythmen des gro-ßen Orchesters und groovende Soli der Jazz-Bigband. Nach diversen Annäherungsversuchen endete die Komposition in einem lärmenden Festmarsch, der die Synthese-Idee zu ironisieren schien. Feinsinniger wirkte „Refractions“ von Niels Klein, der solistische Holzbläser des Orchesters allmählich in den chorischen Satz einer Bigband überführte, während die Streicher dazu einen Gegenpol bildeten und eher der Klassikwelt verhaftet blieben. Obwohl die Komposition von Niels Klein mit dem Preis der Publikumsjury ausgezeichnet wurde, verkörperte wohl das dritte Werk, nämlich „Second Prelude to the Primal Scream“ von Altmeister Wolfgang Dauner, die gelungenste Synthese. Schon der furiose Beginn riss das Orchester in den Sog des Jazz hinein. Schnelle Unisonofiguren der Violinen bildeten die Folie für das Blech und für einen Puls, der nie bloß leer abspulte. Sogar noch die Solooboe war in einen orchestralen Blues integriert, aus dem dann faszinierende Soli von Musikern des Bundesjazzorchesters herauswuchsen. Rapartig von den Orchestermusikern gesprochene „Urschreie des Musikers“ wurden durch Col-legno-Schläge beantwortet und bestätigt.

Ungeachtet der zunächst angespannten Finanzlage hatte die zehnte Edition des Festivals zusätzlich zu den Orchesterkonzerten mit Auftritten junger Preisträger deutscher und internationaler Wettbewerbe ein neues Element eingeführt. Entsprechend hatte man für diesen Sommer das Motto gewählt „Hier spielt die Zukunft“. An begabten jungen Orchestermusikerinnen und -musikern fehlt es weltweit jedenfalls nicht, so dass die weitere Existenz des Konzertlebens gesichert scheint. Die Musikbegeisterung, das hatte das diesjährige Festival bewiesen, überlebt auch wirtschaftliche Durststrecken.

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