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Henze: Ein Landarzt, auf dem Foto: Diogo Mendes als Landarzt, Foto: Siegfried Duryn
Henze: Ein Landarzt, auf dem Foto: Diogo Mendes als Landarzt, Foto: Siegfried Duryn
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Henzes Funkopern als zahme Klassiker an der HMT Leipzig

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So schnell geht das: Hans Werner Henze – verstorben erst vor vier Jahren, also 2012 – ist an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig schon jetzt ein Klassiker. Sein Frühwerk zumindest. Der Grund ist möglicherweise einschneidende Zäsur – und ein Positionen zusammenschweißender Zufall.

Noch am Vormittag des 2. Dezember hatte Claus-Steffen Mahnkopf in seinem Vortrag zur Eröffnung des neuen Zentrums für Gegenwartsmusik (ZfGM) die Abnabelung von dem Schlüsselbegriff „Neue Musik“ aus dem letzten Jahrhundert erklärt: „Gegenwartsmusik“ stehe ab jetzt – gewiss mit einleuchtenden Gründen - für die Kunstmusik des 21. Jahrhunderts. Parallel zum Konzert des auf diese Gründung reflektierenden Musikalischen Kultursalons 2016 fand wenige Hunderte Meter weiter am Dittrichring die Premiere der ersten Studioproduktion des Studiengangs Musiktheater statt. Dieses Zusammenfallen von dem, was sich nicht aufeinander beziehen will und doch zusammengehört, scheint von nahezu symbolträchtiger Distanz – auch als Abspaltung von Theorie und Realität in eigenen Haus. Zur Aufführung gelangten Henzes frühe Funkopern und es war das Regiedebüt von Carolin Masur.

Letzte Spielzeit waren – gekrönt von Vivaldis „La verità in cimento“ als DDR-BRD-Wiedervereinigungs-Entweihungsspiel – alle Produktionen des Studiengangs darauf angelegt, die ausgewählten Werke in einen aktualisierenden und immer wieder beglückt habenden Schwebezustand zum Heute zu bringen, zu halten und vor allem auch musikalisch überzeugend zu gestalten. Diese Hochphase wurde schmerzlich gekappt. Das liegt nicht an Carolin Masur, die als gestandene Sängerdarstellerin aus dem durch und durch authentischen Entwicklungsstrang des ostdeutschen Musiktheaters agiert. Ihren Solisten kann sie gerade deshalb in direkter, schlackenloser Personenführung viel Stoff zur authentischen Menschendarstellung vermitteln. Das ist wichtig und bedeutet bei der kargen, schwarz ausgehängten Spielfläche der „Black Box“ mit einem minimalen Aufwand für Dekoration und Stoffe eine beachtliche Menge: Ein Metallbett für die Kranke in „Ein Landarzt“, ein Plastikpool mit Plastikpalme für die Insel Amengo in „Das Ende einer Welt“ – das sind die spärlichen Spielmittel und treiben die szenische Dynamik umso höher. Auf der Insel werden sie noch mit allerlei Kostümzierrat für die juxige Partymeute aufgehübscht.

Zerrissen auf genau halber Durststrecke

Im Ansatz ist es sehr stimmig, den „Landarzt“ aus Franz Kafkas expressionistischer Erzählung als innerlich Zerrissenen auf genau halber Durststrecke zwischen Bergs „Wozzeck“ und Rihms „Jakob Lenz“ auszuloten. Im weißen Kittel, auf dem Rücken eine gesichtslose Puppe als labbrige Gestalt des ihn drängenden Wahns, unternimmt der lyrische Bariton Diogo Mendes die Parforcetour des Fast-Monologs. Das intellektuelle und affektive Rüstzeug hat er für derartige Hammerpartien, die Ausstrahlungskraft und das Können auch. Die sängerische Power für große Säle vielleicht noch nicht ganz, was er allerdings mit seiner Identifikationskraft mühelos unterspielt. Er und der Tenor Johannes Pietzonka als Dr. Fallersleben – beide sind zugleich Protagonisten und Conferenciers – reißen wie von Henze gedacht das gesamte Umfeld hoch. „Der Landarzt“ ätzt in einer von Unterwerfungsritualen geprägten Sphäre mit Schweinerüsselchen-Frau (Fabienne Haßlöwer) und einem Knecht mit Sadismus-Potenzial, das Etienne Walch ebenso virtuos ausspielt wie danach eine astreine und sogar souverän geschmackssichere Travestie bei der Marchesa Montetristo. „Das Ende einer Welt“ zeigt das Absaufen – nicht Abtauchen – einer Gesellschaft, die voller Wollust gefälschten Sonaten lauscht und der ein überkandidelter Glamour der miese Daseinszweck ist. Das sieht recht authentisch aus – wie in Filmen von Ulrike Ottinger oder Werner Schroeter, auch wenn da wahrscheinlich doch eher das Vorbild Federico Fellini ins wirbelnde Spiel hätte kommen sollen. Ilaria Baggioli waltet als Majordomina über alle Longdrinks, Josephin Queck ist die aufgeblasene Marchesa Montetrista (sic) mit der Leidenschaft für historische Badewannen als Austragungsort ebenso historischer Bluttaten. Andreas Drescher macht als „Kulturträger“ den Regionalclown und ein gewisser „Richter Alexander Hold“ den Papagei – fast alle im Doppeleinsatz für die pausenlos gespielten Opern von je etwa 30 Minuten Länge. Lust am erarbeiteten Bewegungsmaterial wird zum realen Pluspunkt dieser Produktion.

Musikalisch kann an der Fassung für Klavier (Marija Korolkava) und Cembalo (Michelle Bernard) mit einer exponierten Flötensequenz (Marta Pico Socorb) nicht so viel Freude aufkommen, weil Henzes Partituren für kleinere Kammerensembles in dieser Reduktion einfach nicht richtig klingen. Diese Funk- bzw. Radioopern – entstanden originär Anfang der 1950er Jahre und haben ihre Zwölftonschrecknisse längst verloren. Im „Ende einer Welt“ machen das Zitat der „Hoffmann“-Barcarole und „Falstaff“-Parlando sogar Henzes frühe Italiensehnsucht plastisch. Da kitzelt Benjamin Huth am Pult alle Ensembleenergien und wieder einmal ist die Qualität der musikalischen Einstudierung alle Bewunderung wert (Marie Luise Häuser, Helmut Kukuk, Fabio Costa, Davide Guarneri). Doch diese Spielangebote gleichen nicht aus, dass man auf die von Henze akribisch für die Neufassung 1993 transformierten Geräuschkulissen, sie sind echte Wertbausteine der Partituren, und anderen Instrumente verzichtete. Auf dem Besetzungsblatt sind die Textautoren – große Namen wie Franz Kafka und Wolfgang Hildesheimers „lieblose Legende“ – nicht genannt.

Schade, denn mit einer gründlichen und aufmerksamen Inszenierung ist es in diesem Rahmen noch lange nicht getan. Den durch Mahnkopfs Definition „Gegenwartsmusik“ vergrößerten und vergröberten Zeitsprung zurück ins 20. Jahrhundert markiert auch eine kleine Wanne in Rosa, auf der die Signatur „Joseph Beuys“ prunkt. Ist bei der untergehenden Insel Amengo hier gar die Leipziger Stadtgesellschaft gemeint, wie eine überaus sinn- und sichtfällig herumgetragene Flyerbox des regional sehr effizienten „culturtraeger“ vermuten macht? Für die singenden Akteure könnte das das die noch am ehesten fassliche Bühnenrealität zwischen dem Jetzt und der inzwischen fast ein Menschleben fernen Nachkriegszeit sein.

Aber noch etwas fehlt, nämlich alle Reflexe auf Henzes Schlüsselposition für die BRD in den Nachkriegsjahren, sein hohes Renommee in der DDR, der Kult um den Grandseigneur der allerspätesten Neuen Musik zum Millenium. Eben dieser Henze darbte im Gütersloh der ersten Nachkriegsjahre an seiner Außenseiterposition wie sein „Landarzt“ und galt fünfzehn Jahre später dem Wirtschaftswunderland als böser Geist, der sich in Italien mit arrivierten Salonkommunisten vermeintlich an den Werten der Wohlstandsrepublik verbiss. Funken springen aus dieser Biografie nicht in die Aufführung – weder als Dokusoap noch als Offenbachiade oder Historiendrama.

Das erweckt fast den Eindruck, als sei das Henze-Ensemble im Betrieb der HMT Leipzig ohne Produktionsleitung zwischen Kreativteam und Studienzentrale ganz allein auf sich gestellt. Anders als vergangene Spielzeit gibt es keine Dramaturgie oder sonstige Vermittlungsstützen. Das ist auch schlecht für ein Publikum, dem diese nicht ganz einfachen Werke so gut wie unbekannt sind und einem ganz anderen Metaphernhaushalt entstammen als Udo Zimmermanns „Schuhu“ vor einigen Monaten.

Gerade in der Parallele mit der Gründung des ZfGM könnte die Neubewertung von Hans Werner Henze als Klassiker der Neuen Musik die Verpflichtungsinstanz sein: Teil der Kulturvermittlungsaufgaben sind auch die für ihn zu beanspruchende Sorgfalt, Klarheit und Transparenz zwischen den Zeiten der Entstehung und Wiederaufführung – genau wie für „Hänsel und Gretel“ oder „La traviata“. Das gehört ohne Wenn und Aber zu den Lehrinhalten einer Hochschule. Viel Applaus für alle Mitwirkenden auf und hinter der Bühne.

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