Tango, Mambo, Rumba, Samba, Paso doble, Cha-Cha-Cha und jüngst die Salsa-Mode. Weltweit schiebt man lateinamerikanisch über das Parkett, und längst werden Bands und Musiker aus Mittel- und Südamerika international vermarktet. Dennoch sind die Länder südlich des Rio Grande, der die USA und Mexiko trennt, aus europäischer Sicht nahezu unbekanntes Terrain, zumal in Sachen Neue Musik. Im zehnten Jahr seines Bestehens widmete sich jetzt das Festival „Forum neuer Musik“ des Deutschlandfunk Köln diesem „Anderen Amerika“, das den dort lebenden Menschen natürlich gerade umgekehrt „ihr eigenes Amerika“ ist.
Unter dem Motto „La otra América“ präsentierten fünf Konzerte fast dreißig hierzulande bislang gar nicht oder kaum bekannte lateinamerikanische Komponisten. Deren Werke ließen alle einen Bezug auf dasselbe historisch-kulturelle Spannungsverhältnis erkennen, in dem sich dieser Weltteil seit der spanischen Eroberung vor fünfhundert Jahren und dem physischen, religiösen und kulturellen Genozid an der indigenen Bevölkerung bewegt. Bereits in den 1930er- Jahren interessierten sich einzelne Komponisten künstlerisch und ethnologisch für die ausgerissenen mestizischen Wurzeln. In den 1970er-Jahren wurde die sogenannte Mestizierung zu einem bestimmenden künstlerischen Trend. Und auch heute sucht die mittlere und junge Komponistengeneration nach eigenen Wegen zwischen traditioneller europäischer Prägung, internationaler Moderne und dem Wunsch nach nationaler Identität und Rückbesinnung auf die ausgelöschten alten Kulturen der einzelnen Länder, die erst ab 1810 nach und nach ihre Unabhängigkeit von der spanischen Krone erhielten.
Gleich das Eröffnungskonzert des „Ensamble Antara“ aus Santiago de Chile machte den Konflikt zwischen Erster und Dritter Welt unmittelbar in der Gegenüberstellung von rekonstruierten präkolumbianischen Zampoñas mit europäischen Querflöten greifbar. Die sperrigen, teils bodenlangen Panflöten-Nachbauten mit vierzig und mehr Bambusrohren erwiesen sich als äußerst schwerfällig und klanglich limitiert. Schnellere Tonfolgen und größere Intervallsprünge sind darauf unmöglich oder nur von zwei und mehr Spielern mittels hoquetus-Technik auszuführen. Auf dem einzigen Rohr einer Querflöte lässt sich dagegen mit Leichtigkeit ein Vielfaches an Ambitus, Volumen, Tempo und rhythmischer Flexibilität erzielen. An den an sich harmlosen europäischen Instrumenten manifestierte sich transatlantische Kulturgeschichte. Während dieser Kampf der Kulturen in Leonardo Garcías „Ceremonial II“ mit regelrecht zur Schau gestellter Virtuosität eines Pikkolo-Solos eigens reflektiert schien, basierten die übrigen Werke überwiegend aus flächig entfalteten Hauch- und Blasgeräuschen mit zumeist unterentwickelter Rhythmik und häufig pentatonischer Harmonik. Wie Ramón Gorigoitia in „Antesala al rito“ waren auch die anderen Komponisten darauf bedacht, die mit Panflöten gemeinhin verbundenen Klischees durch elektronische Transformation oder erweiterte Spieltechniken zu durchkreuzen. Umgekehrt behandelte Aliocha Solovera Roje in „Resonandes“ ein westliches Flötenquartett gleichsam als indigenes Instrumentarium.
Im Konzert des Freiburger Ensembles Aventure, das sich bereits seit seiner Gründung 1986 mit Komponisten vom Río de la Plata beschäftigt, erklangen Werke argentinischer Komponisten, die in Deutschland und Westeuropa studiert hatten. Hier überwog ein impulsiver, teils motorischer, teils rhythmisch akzentuierter Grundduktus: Zuckungen eines ekstatischen Tanzes bei Andrés Levell, minimalistisch versprengte Rhythmus- und Begleitfloskeln beim Schnebel-Schüler Chico Mello und perkussive Klavierbehandlung mit scharfkantig repetitiven Mustern in Bartók-Manier bei Osvaldo Budón und Jorge Horst. Die Musik der Spahlinger-Schülerin Natalia Gaviola unterschied sich davon durch betont geräuschhaftes, reduziertes Material.
Im Abschlusskonzert bot das Hamburger Ensemble Intégrales zeitgenössische Musik aus der 30-Millionen-Einwohner-Metropole Mexiko-City. Eine furiose Cellosonate von Javier Alvarez und ein ebenso zupackendes Klaviertrio von Gabriela Ortiz – beide ausgezeichnet gespielt – basierten auf erweiterter Tonalität, motivisch-thematischer Arbeit und gelegentlichen Ausflügen zu Jazz, Ragtime und Salonmusik. Solch vorgestriger Neoklassizismus erklärt sich vermutlich durch die allzu konservative Ausbildung, die den Mexikanern in den USA und England zuteil wurde. Womöglich ist diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aber auch symptomatisch für Langzeitfolgen des kolonialistischen Erbes und den historischen Umstand, dass gerade in den 1930er-Jahren während der neoklassizistischen Hochphase in Europa viele Musiker nach Mittel- und Südamerika emigrierten.
Bezugspunkte zu exaltiertem Free-Jazz zeigten aggressive Stücke von Alejandro Castaños und Juan José Bárcenas für Elektronik, E-Geige, Saxophon und Schlagzeug. Im Gegensatz zu Arturo Fuentes’ vordergründigem Solo für Violine, das die Geigenklänge mit elektronischen Hallräumen umgab, erwies sich Castaños’ Kombination von Elektronik mit leicht schwankenden, unsauberen Instrumentalklängen als raffinierter, da auch die scheinbar aseptische Lautsprechermusik ausschließlich aus elektronischen Stör-, Brumm-, Knack- und Knistergeräuschen bestand. Der euphorisierende Elektrosmog von Aleyda Morenos sirrender Dschungelkulisse „Night Music“ lieferte schließlich ein Beispiel für die Durchdringung von berechtigten Versuchen zur Revitalisierung mestizischer Traditionen mit global austauschbarem Ethno-Pop.