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Eurydike: Aiste Stankeviciute; Orpheus: Kai Wefer; Vergänglichkeit: Christopher Breust. Foto: © Ronny Ristock

Eurydike: Aiste Stankeviciute; Orpheus: Kai Wefer; Vergänglichkeit: Christopher Breust. Foto: © Ronny Ristock

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Idylle und Intellekt: Brillantes „Orpheus“-Openair mit fünf Sparten in Gera

Vorspann / Teaser

Auf den Domstufen von Erfurt spielt man mitten im August Puccinis Winteroper „La bohème“ und beim Kunstfest Weimar 2025 reihen sich politische Fragen mit Plädoyers für eine bessere Welt. So ist es nur das Theater Altenburg Gera, welches in Thüringen ohne großes Aufheben die höfischen Festspielideen der frühen Neuzeit tatkräftig in Erinnerung ruft und als Auftakt zur neuen Spielzeit mit dem glänzend gelungenen Prozessionstheater „Der Weg des Orpheus“ verbindet. Schauplatz ist das auch touristisch reizvolle Areal vom Geraer Hofgut und Otto Dix’ Geburtshaus über die Orangerie bis zum imposanten Theaterbau.

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Die Adaption des antiken Orpheus-Mythos und seiner unzählbaren Spuren in der abendländischen Kultur gibt sich bei Generalintendant Kay Kuntze und Sophie Jira durchaus eigenwillig. Es ging um mehr als den Sänger Orpheus, der seine verstorbene Ehefrau Eurydike aus der Unterwelt holen will und nach Misslingen dieser durch höhere Wesen forcierten Tat als genialer Künstler verherrlicht wird. Die Uraufführung „Der Weg des Orpheus“ thematisiert Zaudern, Tatenergie und die Aufforderung zu einem Mut, der Berge versetzen könnte und doch das Risiko des Scheiterns beinhaltet. Kuntzes A-cappella-Komposition „Musengesänge“ erklingt als Station 9.

Alle Sparten und Kollektive waren bei diesem Projekt dabei: Musiktheater, Schauspiel, Chor, Ballett, Kinderballett, Puppen, Orchester. Die Musik griff vieles Bekannte auf und machte weniger Bekanntes für den Schauwert nutzbar: von Monteverdi (natürlich die berühmte Bläser-Intrada), Telemann, Gluck (natürlich mit berühmter Klage-Arie, Furientanz und Reigen seliger Geister), Offenbach (natürlich Höllengalopp zum Finale) und Philip Glass, sogar vom aus dem nahen Teuchern stammenden Händel-Kollegen Reinhard Keiser. Einiges musste verstärkt werden. Aber ein Großteil der Reize ergab sich, weil das Publikum an chorischen Gesangseinlagen (Leitung: Judith Bothe) und malerischen Gruppierungen (Choreographie: Laura Bruña Rubio) vorbeizog, man Mut zum unperfekten Sound hatte.

Das Wetter spielte mit: Die erste sehr kühle Nacht passte besser als Sommerwärme für die Berührungen des Todes und die Allegorie der Vergänglichkeit (Christopher Breust) in mit riesiger Skelett-Attrappe, welche den Publikumsstrom durch das idyllische Stadtpanorama dirigierte. Patricia Felsch sprach als Vergnügen den Prolog. Als Wagemut setzte Julia Gromball mit giftgrünem Auto und brillanten Koloraturen in einer virtuosen Haydn-Arie das vokale Glanzlicht. Lys Schubert als Wehmut und Melis Teichert waren melancholische Inseln, Johannes Beck als Sinnlosigkeit ein kafkaesker Moment nach dem Entschwinden der sprachlosen, von der ätherischen Tänzerin Aiste Stankeviciute verkörperten Eurydike.

Rund 750 Meter wandelt das staunende und auffallend sprachlose Publikum von der Hochzeit bis zur enervierend grellen Apotheose vor dem Portikus des Jugendstil-Theaterhauses. Das Hofgut unterhalb des Schlosses, der Vorplatz des Geburtshauses von Otto Dix, die Elsterbrücke zwischen dem Ortsteil Untermhaus und der Stadt, das Wiesenstück, die Orangerie-Passage als Eintritt zur Unterwelt und der Park mit seichtem Wasserbecken sind als kontrastierende Stadt- und Lebensräume ein idealer Aufführungsort. Das Dröhnen eines Hardrock-Konzerts im Hofwiesenpark, die nahe Straßenbahn, Radfahrende, spielende Kinder und Zaungäste stören nicht. Es ist sogar aufregend, wie sich die mitunter filigranen Klänge gegen die urbanen Sounds dieses Freitagsabends durchsetzen.

Die aufwendigen Spielmittel und Kostüme von Martin Fischer und Andrea Eisensee bebildern starke Gegensätze: Die elegante Hochzeit in „Kaiserwalzer“-Schwarzweiß beim archaischen Fachwerk-Hofgut, dunkel leuchtende Fische und der Schiffer Charon (Peter Prautsch) auf einem Elsterfloß, ein tiefrotes Gerüst für die Unterwelt und die Sockelparade der Musen. In einem knalligem Unterweltspanorama trumpft Johannes Pietzonka als quietschfideler Sisyphos mit Offenbachs Hans-Styx-Couplet auf. Die deutschsprachige Aufführung zeichnet sich durch behutsame Aktualisierungen aus, ohne das humanistische und aufklärerische Gedankengut der alten Quellenwerke zu beschädigen. Pluralismus war auch musikalisches Prinzip: Von filigraner historisch informierter Aufführungspraxis bis zum frechen Arrangement-Umsturz hörte man so gut wie alles.

Orpheus selbst wird zum Jedermann, dem am Ende seines irdischen Spießrutenlaufens vom Verlust über das Scheitern zur Bewährung die fast ironische Erhöhung zuteil wird – keine Counterstimme, kein Hosenmezzo, kein Tenor. GMD Ruben Gazarian, Ko-Dirigent Thomas Wicklein und der Arrangeur Olav Kröger machten aus dem Sänger – wie Karl Richter vor genau 50 Jahren mit Dietrich Fischer-Dieskau - einen Bariton. Kai Wefer ist in der Zentralpartie ein gestandener Mann. Die Stationen bebildern Orpheus’ Entdeckungsreise zu sich selbst und seinen von Zwängen verbogenen Facetten des eigenen Seins. Das Publikum reagierte hellauf begeistert auf diesen ernsten wie kurzweiligem Openair-Spaß mit prima passendem Kick zur mythologischen Geisterbahn.

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