Hauptbild
Foto: Monika Rittershaus
Foto: Monika Rittershaus
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Im Ballett-Kranken-Saal – Massenets „Cendrillon“ an der Komischen Oper Berlin

Publikationsdatum
Body

Stärker als andere musiktheatrale Versionen des Aschenputtel-Stoffes unterscheidet Jules Massenets 1989 uraufgeführte Oper die Ebenen Realität und Märchenhandlung. Die Märchentraumwelt entsteht nur rund um die Protagonistin und zeigt dem Publikum der Belle Epoche eine Fluchtmöglichkeit aus prosaischer Alltagsexistenz auf.

Somit lag es für Regisseur Damiano Michieletto und sein Team nahe, diesen Weg fortzusetzen und aufgrund in dieser Handlung thematisierten Tanzes die Geschichte ins Ballettmilieu zu verlegen. Gleichzeitig deuteten sie Cendrillons Visionen als krankhafte Fluchten einer Körperbehinderten.

Eine Handlung in Raum und Zeit umzusiedeln, anders zu erzählen oder sogar eine andere Geschichte statt jener zu erzählen, welche Dichter und Komponist vorgegeben haben, all das ist legitim – doch es muss überzeugen. Und das vermag die szenische Seite der Neuinszenierung von Massenets auf dem Charles Perraults Märchen basierender Oper „Cendrillon“ nicht, obgleich – offenbar zur Minderung der Reibung zwischen besungenen und ausgeführten Vorgängen – an der Komischen Oper, die bis Ende der vergangenen Intendantenära stets mit besonders originellen deutschen Übersetzungen aufwartete, in französischer Sprache gesungen wird.

Ein Greisin, optisch mehr die Großmutter der Heldin als ihre Mutter, geistert bereits vor Musikbeginn über die von Paolo Fantin zu einem Ballettstudio umgestalteten, unatmosphärischen Bühne, schlägt vorsichtig das am Proszenium stehende, im weiteren Verlauf aber funktionslose Klavier an und näht dann an jenen Ballettschuhen, die hier die gläsernen Pantoffel in Henri Cains Libretto ersetzen. In der Berliner Erstaufführung ist das Mädchen Lucette allerdings nur im übertragenen Sinne eine Cendrillon, ein Aschenputtel.

Im Ballettsaal exerziert der gesamte Chor, angeleitetet von Lucettes Stiefmutter als strenger Ballettlehrerin. Deren Intention ist es, die beiden in die Ehe mitgebrachte Töchter Noémie (Mirka Wagner) und Dorothée (Zoe Kissa) zu Stars auszubilden, ihr Gatte Pandolfe ist auf die Funktion des Hausmeisters, der mit dem Besen für Sauberkeit zu sorgen hat, reduziert.

Lucette selbst aber ist mit einer schweren Beinverletzung ans Krankenbett gefesselt. Nur im Traum kann sie sich als Cendrillon frei bewegen, später auch von einer Tänzerin doubeln lassen (Choreographie: Sabine Franz), während der Prinz als ein Tanzzögling im Trainingsanzug zunächst lustlos herumhängt.

Die Elfen sind graue Damen in Wintermänteln und mit Handtaschen (Kostüme: Klaus Bruns), darunter Cendrillons Tante als Fee (Mari Eriksmoen), die blaue Chiffonbahnen aus einem Loch im Ballettsaalboden zaubern, aus denen dann auch das Ballkleid für Cendrillon zum Vorschein kommt.

Der Ball am Königshof ist ein Tanzwettbewerb, der Doyen da la Faculté (Christoph Späth), der Surintendant des plaisiers (Nikola Ivanov) und der Premier Ministre (Philipp Meierhöfer) sind die Juroren. Aber Lucette erlebt all das ja nur im Traum. Und nach der Pause wacht sie schreiend und unter Schmerzen in ihrem Krankenbett auf, nimmt eine Überdosis an Tabletten ein und erlebt die zweite nächtliche Märchenszene ebenfalls als einen Trip: sichtbar dampfen Bühnentechniker mit Nebelmaschinen den Raum ein, in den sich drei blaue Baumhängergassen herabsenken.

Doch der Prinz entscheidet sich offenbar auch in der Realität für die Kranke, selbst wenn dessen Vater, der König (Carsten Sabrowski) die ungewollte Schwiegertochter mit einem Kick gegen ihr geschientes Bein zu Boden tritt.

Das in körperliche Schmerzen umgedeutete Leid Lucettes verkörpert die deutsche Sopranistin Nadja Mchantaf mit stimmlicher Leuchtkraft, Flexibilität und Reinheit ganz vorzüglich. Der als Hosenrolle den Oktavian vorwegnehmende Prince Charmant wurde im vergangenen Jahrhundert auch von Tenören, etwa von Nicolai Gedda interpretiert. In der musikalisch originalen Version mit ihrem barocken Kolorit macht Karolina Gumos den Prinzen in den romantisch schwelgerischen Liebesszenen zu einem nicht nur tänzerisch optimalen Partner für die nach rosa Spitzenschuhen trachtende Heldin.

Auch das Umfeld des Paares singt überdurchschnittlich schön, insbesondere Werner van Mechelen als Pandolfe, Cendrillons Vater, verliebt in die eigene Tochter und unterdrückt in unglücklicher Zweitehe mit Madame de la Haltière, die Agnes Zwierko skurril-überdomiant und raumergreifend gestaltet.

Der von Andrew Crooks einstudierte Chor ist auf der Szene mehr ballettös als stimmlich gefordert. Dirigent Henrik Nanasi macht den gläsernen Pantoffel wenigstens im Orchester hörbar und läuft mit dem gut disponierten Klangkörper der Komischen Oper insbesondere in grotesken Momenten zu Hochform auf.

Die in Berlin seltsamerweise noch nie zuvor erklungene Märchenoper von Jules Massenet wurde vom Premierenpublikum in der – wohl EM-bedingt nicht ganz ausverkauften, letzten Saison-Premiere der Komischen Oper – ohne Einschränkung gefeiert.

  • Weitere Aufführungen: 16., 19., 26., 29. Juni, 2. und 10. Juli 2016

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!