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Stockhausens „Musik Im Bauch“. Foto: MaerzMusik/Berliner Festspiele

Stockhausens „Musik Im Bauch“. Foto: MaerzMusik/Berliner Festspiele

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Im leuchtenden Bauch der neuen Musik

Untertitel
Die Berliner MaerzMusik will zurück in die Unmittelbarkeit des Hörens
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Seit zwei Jahren leitet die Musikjournalistin und Kuratorin Kamila Metwaly nun die Geschicke der Berliner Maerz-Musik und allmählich wird so etwas wie eine eigene Handschrift erkennbar (auch wenn dieser Begriff in Kreisen heutiger Veranstalter*innen eher verdächtig sein dürfte). Sie hat an der interdisziplinären Ausrichtung des neben Ultraschall bedeutendsten Berliner Festivals für zeitgenössische Musik nicht gerüttelt, die inhaltlichen Gewichtungen aber merklich verschoben. 

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Der latent vermessene und zugleich ungreifbar im trüben fischende Untertitel „Festival für Zeitfragen“ wurde inzwischen unauffällig entfernt, stattdessen sind unter Metwaly die Musik, der Klang, das Hören wieder zum eigentlichen Gravitationszentrum des Festivals geworden. In dieser Hinsicht war das Eröffnungskonzert auch ein Statement, das mit dem ehedem von François Bayle ersonnenen „Acousmonium“ der „Groupe de Recherches Musicales“ keine Menschen, sondern ein Lautsprecherorchester auf die Bühne brachte. Elektronische Kompositionen aus einem halben Jahrhundert akusmatischer Musik forderten unter Federführung von François Bonnet das „reine Hören“ heraus. Neben Klassikern wie Iannis Xenakis’ abgründigem „Orient-Occident“ (1960) und Luc Ferraris Alltagspoesie von „Presque rien avec filles“ (1989) erklangen auch Novitäten von Elektronikerinnen der jüngeren Generation. Die setzten zumeist auf raumgreifende Flächigkeit, in deren Farbspektren und verborgenen Harmonien man in wechselnden Lichtarrangements abtauchen durfte. Das zeitigte in der rauen Monochromie von „Dissolution Grip“ (2024) des nigerianischen Klangkünstlers und Elektronikers Kamaru mit überzeugender Konsequenz zeitlupenhafte Mikro-Veränderungen. Wie schnell unreflektierte Versatzstücke aus Ambient und Techno aber zur Banalität werden können, demonstrierte Michèle Bokanowski in der mit Buh-Rufen quittierten Seichtheit der „Rhapsodia“.

Die augenscheinliche Entmenschlichung der Eröffnungsbühne im Haus der Berliner Festspiele war jedoch alles andere als repräsentativ für den Geist des aktuellen Jahrgangs. Ganz im Gegenteil stand der unmittelbar körperlich erfahrbare Moment musikalischer Performance auch im traditionellen Konzert-Format ganz oben auf der Agenda. Die Neue Musik-Szene neigt dazu, sich der Qualitäten eines vorhersehbaren Interpreten-Pools zu bedienen, MaerzMusik präsentierte diesjährig jedoch einige erfrischende Ausnahmen von der Regel. Eine davon war das b-l Duo aus Singapur. Bertram Wee und Lynette Yeo entfachten an zwei Keyboards in Stücken von Alex Paxton, Joan Tan, Bertram Wee, Sarah Nemtsov und Enno Poppe kompromisslos schnell, laut und exakt verpixelte Noise-Gewitter, vertrackte melodische Achterbahnfahrten und rhythmisch auf den Punkt servierte Klang-Zersplitterungen. Neben b-l stellte auch das Wiener Black Page Orchestra (ebenfalls Premiere bei der MaerzMusik) in einem gnadenlos lärmintensiven Set unter Beweis, dass der post-pandemische Festival-Jahrgang nicht unbedingt ein Ort der Kontemplation in Abkehr einer defizitären Welt sein wollte. Auch wenn das wie in „Halucinatio“ (2023) von Stefan Juster alias „Jung an Tagen“ volksmusikalisch unterfüttert war, bedeutete das nicht esoterische angehauchte Besinnlichkeit, sondern ekstatisch abgedrehte Klang-Entgrenzungen via Flöte, Schlagzeug und Elektronik. 

Eher gediegen geriet das von George Lewis kuratierte Konzert des International Contemporary Ensemble im Theater Delphi unter dem Motto „Polyaspora“. Was unter dem beachtlichen Vorsatz „planetarischer Perspektiven“ mit dem Anspruch antrat, nichts weniger als „interkulturell, intermedial, interdisziplinär, kollaborativ, kreolisiert und über die Grenzen von Ästhetik, Praktiken, Geschlecht, Ethnizität, Race und transnationalen Formationen hinweg verbunden“ zu sein, entpuppte sich unterm Strich als recht austauschbare Ensemblemusik europäischen Neue Musik-Zuschnitts. Expressiv aufhorchen ließen bezeichnenderweise nur die Oldies im Programm: Samir Odeh-Tamimis „Philaki“ (2009) und Charles Uzors „Go“ (1999).

Bei allem Fokus auf Prozesse des Hören präsentierte MaerzMusik 2024 aber kein musikalisches l’art pour l’art im inhaltslosen Raum, sondern eine Vielfalt möglicher Kontextualisierung, ohne dass ein übergeordnetes Thema die Beiträge in eine bestimmte Richtung gedrängt hätte. Außermusikalische Bezüge und gesellschaftsrelevante Inhalte waren nicht oberflächlich plakatiert, sondern als klangliche Transformationen ästhetisch wirksam. In den „Topographies of Hearing“ bespielten diverse Klangkünstlerinnen verschiedene Örtlichkeiten Berlins, um Zusammenhänge von Klang, Körper und öffentlichem Raum spürbar zu machen. Christina Kubisch hatte in „Kupfergarten“ eine interaktiv begehbare Installation aus Kupferkabeln geschaffen, deren Wirkung in der Ambivalenz von Schönheit und Dystopie beheimatet war: Die zerstörerischen Aspekte des Kupferabbaus und seiner industriellen Weiterverarbeitung waren dort ebenso hörbar wie die Lautgebungen einer Natur am Rande der Katastrophe. Den nachdrücklichsten Fokus auf die Anwesenheit der Natur legte Miya Masaoka in der Einzelausstellung „Refuge in the Vegetal World“. Videoarbeiten und Mixed Media-Installationen propagierten ein Verlassen der anthropozentrischen Perspektive (geht das?) und waren auf physische Verschmelzungen mit dem Reich der Pflanzen und Tiere aus. Was hinten rauskam war aber unvermeidlicherweise immer noch Kunst, ergo elementar menschengemacht.

Das vielleicht gelungenste Projekt im Zusammenspiel visueller und akustischer Kräfte verdankte sich jedoch den Klängen längst vergangener Tage: Karlheinz Stockhausens „Musik Im Bauch“. Simon Steen-Andersen zeichnete als Gesamtkunstwerker für Konzept, Inszenierung und musikalische Einrichtung verantwortlich. Stockhausens gleichnamiges Perkussionsstück wurde 1975 von Les Percussions Strasbourg uraufgeführt, freilich noch in anderer Besetzung als in Steen-Andersens Neu-Interpretation, die sich geschickt in die theatralen Spielräume der Vorlage einklinkte. Seine Deutung von Stockhausens ritueller Traum-Inszenierung verband Werktreue, ironische Brechung und intelligente Reflexion zu einer atmosphärisch dichten Hommage. Sie konnte auf die sphärischen Kompetenzen von Stockhausens originalem Perkussionsapparat mit seinen opulenten Metallklingern bauen. Ehrensache, dass Steen-Andersen in seiner Eigenschaft als findiger Kommentator musikalischen Kulturgutes zwischen Beethoven („no Concerto“) und Bayreuth („The Loop of the Nibelung“) den Meister aus Kürten persönlich ins Geschehen verfrachtete, der sich während der Aufführung mit telefonischen Kommentaren aus dem Jenseits in Erinnerung rief. Musikalisches Herzstück von „Musik im Bauch“ sind die von Stockhausen selbst entworfenen Spieluhren, deren Melodien den 12 Tierkreiszeichen zugeordnet sind. Steen-Andersen ließ drei der 12 Spieluhren aus dem rot glühenden Bauch des Vogelmenschen „Miron“ bergen, um dem kosmischen Traumgespinst einen adäquat poetischen Ausklang zu verschaffen. Das letzte Wort hatte dabei natürlich die Licht-Gestalt der Avantgarde, um die Musik als „Fluggerät“ der Zukunft zu preisen. Und das klang bei Steen-Andersen durchaus wie eine Utopie musikalischer Gegenwart.

Eine der besonderen Qualitäten der MaerzMusik war schon immer ihr archäologisches Gespür für Komponis­tinnen und Komponisten, die durch die Maschen der europäischen Musikgeschichtsschreibung gefallen sind. In der Vergangenheit waren das der afroamerikanische Minimalist Julius Eastman oder die Elektronik-Pionierin Eliane Radigue. Dieses Jahr befand sich in der Wundertüte historischer Versäumnisse die polnisch-amerikanische Komponistin und Choreografin Lucia Dlugoszewski. 

Unter dem Motto „Contemplations into the Radical Others“ begab sich MaerzMusik mit einer Reihe von Konzerten, Vorträgen und Workshops auf Forschungsreise. Erkundet wurde ein Werk, das die unmittelbar physische Wirksamkeit von Klang ins Zentrum einer Musik stellt, welche die Komfortzonen des Erwartbaren geflissen ignoriert. Das bedeutete musikalische Abläufe voller Überraschungen und Brüche, oft im Zusammenhang von Choreografien der Dance Company ihres Partners Erick Hawkins. Nicht nur deren Partituren mussten oft erst mühsam rekonstruiert werden. Annähernd 100 selbst erfundene Perkussionsinstrumente bezeugten den Entdeckergeist Dlugoszewskis und wurden von Thomas Meixner (gut im Training durch die Re-Inventionen der Klangobjekte Harry Partchs) in liebevoller Kleinarbeit nachgebaut. Zum Einsatz kamen sie durch Dirk Rothbrust und das Ensemble Musikfabrik in „Tender Theatre Flight Nageire“, eine Ansammlung musikalischer Rituale, die mit latent infantiler Direktheit Dlugoszewskis ästhetische Maxime zu illustrieren schienen: Das erste Anliegen von Musik sei es, die Gleichgültigkeit des Hörens zu erschüttern. 

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