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Tobias Greenhalgh (Cold Genius), Judith Rosmair (Emmeline). Foto: © Marie-Laure Briane
Tobias Greenhalgh (Cold Genius), Judith Rosmair (Emmeline). Foto: © Marie-Laure Briane
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„Imagine“ mit Purcell-Musik – Neudeutung von Henry Purcells „King Arthur“ in München

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Sänger, Performer, Choristen, Tänzer? Nein, sechzig Multitalente in stetiger Aktion auf einer schrägen Spielfläche, deutscher Text, englischsprachiger Gesang – das Ergebnis ist Münchens spektakulärster Musiktheaterabend.

Der bis heute verklärte britische Nationalheld Artus samt sagenumwobener Tafelrunde, ritterlichem Edelmut und Suche nach dem heiligen Gral – kann man sich dem im 21.Jahrhundert anders nähern als Monty Python in den „Rittern der Kokosnuss“? Künstlerisch erstaunlich ist, dass schon 1691 der englische Komponist Henry Purcell (1659-1695) nicht ein pompös donnerndes Staatsopernwerk schuf, sondern eine „semi-opera“: das signalisierte nicht etwa „nur 50% Gral“ oder „die Hälfte der Arien“, sondern eine bunte Mischform aus meist elektrisierenden Instrumentalnummern, gefühlvollen Arien, viel Theatermaschinenzauber, populären Tanzeinlagen, vielfältigem Chorgesang und Sprechszenen – mit der Besonderheit, dass Götter, Geister und Volk singen, während selbst königliche Menschen nur sprechen.

Was der damals höchst angesehene Dichter John Dryden als Librettist am Ende doch in eine Feier Britanniens und seines damaligen wie aktuellen Königs münden lassen wollte, weitete Henry Purcell in einer Vorwegnahme der Idee des Gesamtkunstwerkes zu einer Feier von humaner Herrschaft, treuer Liebe und liebevollem Besitzen.

Genau da setzt die grundlegende Bearbeitung des Teams um Regisseur Torsten Fischer, Herbert Schäfer sowie Vasilis Triantafillopoulos (Dramaturgie, Bühne und Kostüme) und Karl Alfred Schreiner (Choreografie) an. Die ursprünglichen fünf Stunden Spieldauer sind auf zwei verdichtet, die heute kaum verständlichen Bezüge auf „Angeln contra Sachsen - hin zu angelsächsischem Königtum“ weggelassen. Ins Zentrum stellt Fischer die „Menschwerdung“ dreier Hauptfiguren: König Arthur muss durch Gefahr und Verlust-Ahnung zu Liebe und Zartheit finden; der rivalisierende König Oswald muss erleben, dass Machtgier und daraus resultierende Brutalität ihn scheitern lassen; die von beiden geliebte Emmeline ist zunächst blind – real und somit für die Kampfeswelt der Männer – erst „kind possession“, die zart-demütige Liebe lässt sie im zweiten Teil „sehend“ werden. Dass diese vierhundert Jahre alten Inhalte ganz „nahe“ sind, belegt Regisseur Fischer: Die derzeit  gespenstisch aktuelle Erfahrung von Gewalt, Krieg und Tod lässt ihn ein Zitat aus „The End“ von den „Doors“ einfügen. Zentral aber setzen er und Mitübersetzer Herbert Schäfer eine weitere Parallele: nach „Wir sind hier, um zu träumen“ verwendet Librettist Dryden mehrmals die gleichen Wörter, weshalb von Anfang an auf der schrägen Spielfläche in weißer Schrift „Imagine“ leuchtet – und Emmeline spricht später Zeilen aus John Lennons Vision einer sozial friedlichen, „himmlisch“ humanen Welt.

Im schwarzen Raum der Reithalle beginnt all dies mit einem historisierenden Hauch: im Schreitrhythmus der Eröffnungsmusik – Marco Comin und das Gärtnerplatzorchester unsichtbar hinter der Spielfläche – treten links und rechts schwarz gewandete Herrschaften mit Falt-Halskrausen des elisabethanischen Zeitalters auf, streifen Kostümteile ab und dann weitet sich alles zeit- und grenzenlos: Solisten, Performer, Chor (exzellente „Sing-Spiel“-Einstudierung: Felix Meybier) und Tänzer verschmelzen zu einem stupend bruchlos einheitlichen Ensemble. Liebes-Rivalität, „Heiliger Krieg“ - zu dem von „Absolutismus“ bis „Zentralismus“ alle „-ismen“ auf die Spielfläche und das Körpergetobe projiziert werden - Siegesgestampfe, Vergewaltigung und Tod, Klage und Elend wechseln in Aktion, Pantomime, Ausdruckstanz und Modern Dance, unterlegt mit der musikdramatischen Vielfalt Purcells. Zum Finale des ersten Teils kehrt Ruhe ein, “kind possession“ wird erhofft und vor einer gleißenden Sonne im Hintergrund Emmeline sehend (atemberaubend mittanzend und anrührend spielend: Judith Rosmair).

Dem theatralischen Taumel und diesem Höhepunkt folgt kein schwächerer zweiter Teil. Jetzt werden Arthur, Emmeline und Oswald durch ein Wechselbad erschreckender Gefühle gejagt. Zum Musikhöhepunkt der „Frost-Nummer“, in der der kalte Genius durch Venus „auftaut“, gelingt dem Bühnenteam der Höhepunkt – zweimal Szenenapplaus – des Abends: auch Emmeline beklagt vor einem Berg schwarzer Müllsäcke die Kälte der Welt, schwarze Geister öffnen die Säcke und an der vorderen Spielkante stauen sich die herausrollenden weißen Kugeln zu einem Meer aus Schneebällen, aus dem verführerische Tanz-Geister in Glitzerkostümen auftauchen. Arthur (fesselnd bullig viril Simon Zigah) erlebt mit ihnen eine turbulente Lusthölle, ehe ein schwarzes Tuch als düsteres Meer alles bedeckt. Regisseur Fischer entscheidet nicht, ob Emmeline sich eindeutig Arthur oder Oswald zuwendet, alle sind am Ende nur zu einer Bootsgemeinde auf Fahrt durch die Welt vereint – und Fischer wagt seine dritte Einfügung: Emmeline zitiert den Eröffnungschor aus Luigi Nonos „Intolleranza“: „Lebendig ist, wer wach bleibt / Sich dem anderen schenkt / Das Bessere hingibt / niemals rechnet /… / nicht aufhört zu lieben.“ Purcells Traumspiel geweitet zur theatralisch überbordenden Vision für ein besseres Morgen – gefeiert mit stürmischem Jubel.

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