Überschreibungen, Arrangements, Bearbeitungen und Pasticci der Operetten von Johann Strauss Sohn gibt es seit über 100 Jahren wie Sand am Bühnenmeer. Etwas Besonderes ließen sich Roland Geyer, Intendant des Wiener Festjahrs Johann Strauss 2025, Roncalli-Gründer Bernhard Paul, Bestsellerautor Thomas Brezina und Star-Arrangeur Johnny Bertl einfallen: Strauss-Stücke nicht als Zirkusmusik, sondern als Materiallager für ein autonom musicalartiges „Zirkusspektakel“ mit Wiener Stars und heißen Rhythmen der erweiterten Gegenwart. Am 10. September war Premiere unter Applaus- und Dauerregen. Ganz Wien leuchtete am Heumarkt im Roncalli-Zelt.

Caliostro. Foto: Victoria Nazarova
Ist Johann Strauss im Wiener Festjahr 2025 „Der Schwierige“? Das Roncalli-Musical „Cagliostro“ von Brezina & Bertl bekennt Farbe
Das breite Publikum unterscheidet in der Regel kaum zwischen herbeigeredeten und echten Sensationen. Aber eines steht unweigerlich fest: Die Neuschöpfung „Cagliostro“ von Bestseller-Autor Thomas Brezina und Johnny Bertl, dem Komponist von „Falco meets Amadeus“, ist eine wichtige Aktion am wichtigen Platz und zu wichtiger Zeit des Wiener Festjahres Johann Strauss 2025, nämlich am Beginn der neuen Spielzeit. Die Galagäste ließen sich die Stimmung vom Prasselregen auf das Zeltdach des Circus-Theater Roncalli am Heumarkt und bei der durchfeuchteten Premierenfeier nicht verderben. Die Prominenz-Akkumulation war in der Manege und auf den Publikumsbänken beachtlich. Michael Schachermeier, neuer Intendant der Hersfelder Festspiele in der Stiftsruine, inszenierte, der Experte Gabor Rivo dirigierte. Mit einer erstaunlichen Artist*innenriege für Cyr Wheel, Jonglage, Luftkugel, Teeterboard und Todesrad teilte sich eine Schar von Wiener Publikumsmagneten und -lieblingen die Manege.
Aus 28 Werken des Wiener Walzerkönigs – Operetten, Walzern, Polkas, Quadrillen – kreierte Johnny Bertl 32 Popsongs, die im flächig-basslastigen Sounddesign von Viktor Seedorf ebenso einer Hommage an den in Wien ebenfalls vergötterten Andrew Lloyd Webber gleichkamen. Die Leichtigkeit und Poesie war also vor allem auf Seite der phänomenalen Acts des Roncalli-Teams. Brezina ließ sich neben seinem Krimi „Aus für Strauss“ durch Johann Strauss Sohn von dessen heute vergessener Operette „Cagliostro“ inspirieren, die Bertl vor allem in Fragmenten aus der Cagliostro-Quadrille op. 369 und Cagliostro-Walzer op. 370 aufgriff. Strauss’ originale Operette auf das Textbuch von Richard Genée und Camillo Walzel erlebte ihre Uraufführung 1875 in Wien, drei Jahre nach „Die Fledermaus“. Weder ihr noch späteren Bearbeitungen war kein nachhaltiger Erfolg beschieden.
Bei Brezina & Bertl mischt der Abenteurer Cagliostro nicht Schloss Schönbrunn und den Hof Maria Theresias auf, sondern den Zirkus der voll im Wechseljahre-Blues steckenden Madame Sophie und von deren kreativ unternehmungslustigen Sohn Severin. Zu Klängen aus Disco und Drums. Bertl handhabt ein imposantes Spektrum von Reizmitteln aus einem halben Jahrhundert mitteleuropäischer und US-affiner Unterhaltungsmusik. Im Cast sind Eva Maria Marold als Sophie und Josef Ellers als Severin die einzigen, die über den Musical-Tellerrand hinaus agieren und damit auf Theaterseite jenes poetische schwebende Flair erzeugen, mit dem der anwesende Roncalli-Gründer Bernhard Paul seit 50 Jahren Erfolge feiert. Fast werden Sophie und Severin zu Opfern des weniger bezirzenden als stählernen Hypnotiseurs Cagliostro (Thomas Borchert mit eiskalter Schale ohne weichen Kern) und seiner Sister in Crime, dem kanaillenartigen Luder Laurenza (Katharina Gorgi mit straff durchgezogener Musical-Professionalität). Fast kommen Sophie, Severin und dessen Sandkastenfreundin Emilia (Sophia Gorgi ist die fast sympathische Weichzeichnerin des Abends) um Zirkus und Barvermögen. Aber das Gute siegt. Bis zur glamourösen Apotheose mit Annen- und Champagner-Polka reicht die kunterbunte Ausstattung von Dominique Wiesbauer und Daniela Mühlbauers gekonnte Choreographie. Die Johann-Strauss-Zirkusband kam ohne Streicher aus. Deren Beats waren oft gewichtiger und aktionsdynamischer als das Melos. Aus dem Jubel der Premierengäste hörte man, dass „Johann Strauss im Zirkuszelt“ in den Vorstellungen zum 20. September alle Voraussetzungen für einen satten Erfolg bereithält.
Trotzdem zeichnet sich im Festjahr Johann Strauss 2025 inzwischen ab, dass das Verhältnis der Wiener Kulturschaften zum Walzerkönig und dessen nostalgisch bis virtuell omnipräsenten Musikparadies nicht ganz so enthusiastisch und unverkrampft ist, wie das Außenstehende denken. Nach „Das Spitzentuch der Königin“ waren die vier weiteren Musiktheater-Produktionen allesamt nicht ganz spannungs- bzw. skepsisfrei. Dem „Z*Baron“ wurde von Musikbanda Franui und opulenter Besetzung äußerst kritisch begegnet, ebenso Strauss’ Bühnendebüt „Indigo“ als Pocket-Outdoor-Operette und Tournee-Zelebrität für alle Wiener Stadtbezirke, „Waldmeister“ kam als Switch in die polyamourösen Geschichten aus dem Wienerwald des 20. Jahrhunderts vom Gärtnerplatztheater München und „Cagliostro“ von Brezina & Bertl hat konzeptgemäß mit dem „Cagliostro“ von Strauss fast nur den Titel gemeinsam. Es wird spannend, ob die Neuproduktionen von „Die Fledermaus“ im Theater an der Wien ab 4. Oktober und „Eine Nacht in Venedig“ in der Volksoper ab 25. Oktober als editorisch-wissenschaftlich genaue, die Originalgestalt wertschätzende und ohne Überschreibungen vergegenwärtigenden Lesarten präsentiert werden.

„Wiener Blut“. Foto: Victoria Nazarova
„Wiener Blut“
Im Sommerstück „Wiener Blut“ für das Schlosstheater Schönbrunn hatte der sensible Regisseur Nikolaus Habjan im August einige Vorbehalte gegen das schön nostalgische Pasticcio, an dessen Verfeinerung er für die Übernahme der Produktion an die Aalto-Oper Essen noch feilen wird. Bei Habjan revoltiert die recht streng wirkende Probiermamsell Pepi (Sophie Mitterhuber) gegen den erotischen Intrigantenstadel der kleinadeligen bis halbseidenen anderen Figuren. Nikola Hillebrand (Gräfin Zedlau) und Anett Fritsch (Primaballerina und Gelegenheitskurtisane Franzi) sangen locker bis virtuos, weil unbefangen. Dem Tenor David Kerber war bei der für den neoliberalen Puritanismus etwas unfein wirkenden Phallokratie des Womanizers Zedlau leicht unwohl. Boris Eder setzte als Lakai Josef mehr auf konturlose Präsenz denn Charme. Erfreulich pralle Operettencharaktere machten dagegen Alexander Strömer als Fürst Ypsheim und Franz Xaver Zach als Ringelspiel-Mogul Kagler. Habjan selbst lieferte in der Karikatur des busselnden Grafen Mitrowski mit einer seiner scharfsinnig modellierten Puppen ein gar abstoßendes Beispiel für vormoderne Galanterie-Offensiven. Das Wiener KammerOrchester und die Dirigentin Hannah Eisendle bekundeten Unwillen gegen die aufgesexten Zumutungen der Handlung und wehrten sich durch eine blässliche Begleitung, die jedes erotische Operetten-Glitzern mit Nichtbeachtung straften. Franuis „Das Lied vom Rand der Welt oder Der ‚Zigeunerbaron‘“, Josef E. Köpplingers „Waldmeister“-Inszenierung und auch „Cagliostro“ sind bisher also jene Musiktheater-Beiträge zum Wiener Strauss-Jahr, die Sinnlichkeit als unerlässliche Zutat in Kompositionen des Jubilars ohne Kritik aufgreifen und stellenweise sogar feiern. Diese sparsame Dosierung von Hemmungslosigkeit gibt zu denken.
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