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 Carmen Steinert, Jeanett Neumeister, Ensemble. Foto: © Andreas Leander

 Carmen Steinert, Jeanett Neumeister, Ensemble. Foto: © Andreas Leander

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Kalt, brillant, elektrisierend: Zeitgemäßer Operetten-Chic mit Dostals „Clivia“ in Magdeburg

Vorspann / Teaser
Noch vor wenigen Jahren galt der im Nationalsozialismus nach Exkommunikation der jüdischen Operettenszene zu Erfolg gekommene Nico Dostal als anrüchig für die aktuelle Reform der „leichten Muse“. Jetzt wird „Clivia“ nach Graz und Dresden in Magdeburg zum Hit. Im Opernhaus erfand Intendant Julien Chavaz eine Rahmenhandlung über einen Kindertraum vom Investigativjournalismus. Drei Stunden Super-Unterhaltung mit Coolness und heißer Musik. 
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Die exzessive Opulenz dieser Produktion im Opernhaus Magdeburg ist Programm: Laut und extrem brechen die Jazz-Sounds der Magdeburgischen Philharmonie über das erst schweigsame, dann immer mehr enthusiasmierte Premierenpublikum herein. Sentimentales Schwelgen gibt es unter dem Dirigenten Kai Tietje nicht, allenfalls lakonische Prägnanz. Der „Clivia“-Experte macht in Magdeburg Tempo, aber auch entlarvenden Schmiss und eine gewisse Kälte. Man orientierte sich am „Clivia“-Quantensprung durch die Komische Oper Berlin, wo 2014 die Geschwister Pfister das umstrittene Opus aufmischten und Christoph Marti die Titelrolle verkörperte. Auch im Instrumentalverhalten. Die Komische Oper hatte das Werk so musiziert, wie es im Geist der Weimarer Republik erklungen wäre, also nicht verunziert von deutschnationaler Biederkeit und deren horribler Ideologie. 

Das Premierenpublikum schlängelte sich vor Beginn durch eine mit beträchtlichem Polizeiaufgebot flankierte Kundgebung gegen das für Frühjahr 2026 geplante Theaterprojekt „Drei Minuten“ von Kevin Rittberger und Sebastian Nübling über den Anschlag von Taleb A. am 20. Dezember 2024 auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt. Die über Facebook organisierte Kundgebung wendet sich gegen eine befürchtete pro-islamische Aufarbeitung der Katastrophe. Teilnehmer zeigten unterschwellige Aggressionen gegen das Theaterpublikum. 

Dann erlebte man Opulenz total: Vor und hinter dem silbernen Fadenvorhang jagen sich auf der von Mariia Bokovnia für Chavaz aufgedonnerten Bühne variable Farborgien in den bevorzugten Akzenten Bambus, Pink, Orange und Gelb. Jean-Jacques Delmotte sparte an Stoffen weder für Männer noch Frauen. Hohe Rockschlitze, Schlaghosen und Rüschenpracht gibt es für die mondäne Filmdiva Clivia Gray, aber auch für das gleich zu Beginn mit einer geometrisch exaltierten Latino-Nummer aufwirbelnde Ballett (Choreographie: Daniel Daniela Ojeda Yrureta). Benjamin Sommerfeld als Strippen ziehender Filmboss Potterton verkörpert die Haltung der Produktion perfekt: kein Grandeur mit grauen Schläfen, sondern ein Korruption als Haltung setzender Durchstarter mit Charisma, weil Smartness einfach geil ist.

Wie Paul Abrahams „Märchen im Grand Hotel“, DER Operetten-Entdeckung der letzten Spielzeiten über verarmten Hochadel auf der Flucht, ist in „Clivia“ der Putschversuch mittels in den lateinamerikanischen Bilderbuchstaat Boliguay hineingepressten Filmset eine harte Handlungsnuss. Mondänität breitet sich über politische Drastik und Tänze auf dem Vulkan internationaler Minenfelder. Magdeburgs Intendant Chavaz, der mit lustig leichter Hand Tanz, Chor und Soli koordinierte, hatte auf Basis der Fassung für die Komische Oper Berlin mit Tietje und Dramaturg Christoph Clausen eine eigene Einrichtung erstellt. Der Journalist Lelio wird in der ausgedehnten, erfundenen Rahmenhandlung zum Jungen Louis Londres nach der realen Persönlichkeit des gleichnamigen französischen Investigativjournalisten. Louis träumt sich bei seinen Großeltern in die Story hinein und zum Autor eines großen Aufmachers in der New York Times hinauf. Carmen Steinert – jüngst mit dem renommierten Alfred-Kerr-Darstellerpreis im Rahmen des Berliner Theatertreffens ausgezeichnet – spielt ihn kindlich, aber auch als filouhaften Galan mit Schwächen für Yola, die Generalin und Anführerin der Guerilla-Truppe Tanzballett Kommando Spitze.

Überhaupt marschieren in Chor und Ballett einige Damen als Herren und einige Herren als Damen. Sie werfen Kusshände, flunkern mit verschärfter Lust auf Flirt und werfen sich in frivole bis kokette Posen. Trotzdem wirken die jüngeren Frauen leicht hart, und nur Undine Dreißig als Erfinder Gustav Kasulke mit dem Hit vom „Verreisen“ gibt sich einigermaßen weich. Jeanett Neumeister als Generalin Yola Damigo könnte im anderen Kontext eine „Walküre des Salons“ sein. Es passiert unheimlich viel. So gerät das zackig abschnurrende Operetten- und Theaterwunderwerk perfekt, aber auch ein bisschen steril. Heute nicht mehr gesellschaftsfähige Zuschreibungen und Geschlechterklischees werden in Dostals Hits dezent begradigt: „Am Ende des Tages ist Liebe was ganz Wunderbares …“ heißt es statt der am Manzanares 1933 noch für rar gehaltenen Frauentreue.

Beim Vorantasten vom ersten Flirt zur Zweckheirat des amerikanischen Superstars mit dem boliguayischen Jedermann Juan Damigo will sich dann doch nicht das herzinnige Happy End entwickeln. Damigo durchläuft die Wandlung vom schnurrenden Latin Lover zum kalt durchgreifenden Präsidenten des Fantasiestaats und geht gegen die eindeutig US-amerikanisch sozialisierten Putschisten drastisch vor. Das klischeehafte Operetten-Dramolett nimmt dann einen anderen Verlauf und bleibt Show-Traumfabrik. Andreas Bongard als Präsident hat den leichter darstellbaren Switch in die Härte. Für Anja Backus, die Darstellerin der Clivia Gray, ist es trotz der fast 100 % beherzigten Operetten-Faustregel „Jeder Auftritt in einem neuen Kleid“ echt schwer. Denn der Filmdiva Clivia Gray bleibt neben der Schauspielerei eigentlich so gar keine Alternative. Am Ende will der kleine Louis nicht mehr Journalist, sondern Filmregisseur werden. Fazit: Für die Wahrheit interessiert sich keiner.

 

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