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Brachte mit dem Programm „Disco“ klassische Musik und Club-Atmosphäre auch beim Mozartfest Würzburg zusammen: das „Orchester im Treppenhaus“ im Maschinenhaus der Veranstaltungsstätte Bürgerbräu. Foto: Claudia Irle-Utsch

Brachte mit dem Programm „Disco“ klassische Musik und Club-Atmosphäre auch beim Mozartfest Würzburg zusammen: das „Orchester im Treppenhaus“ im Maschinenhaus der Veranstaltungsstätte Bürgerbräu.

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„Klassik darf auch unterhalten“

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Das Mozartfest Würzburg gibt mit der Reihe „Unexpected“ anderen konzertanten Formen einen Ort und wird damit diverser
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Das Spiel mit Erwartungen, der Freiraum für das Unerwartete und vielleicht auch für das Unerwartbare hat beim Mozartfest Würzburg eine eigene Reihe: „Unexpected“ geht seit 2021 mit ihren Konzerten an die Grenzen zwischen Klassik, Jazz und anderen musikalischen Stilen. „Auf höchstem künstlerischen Niveau“, wie Intendantin Evelyn Meining unterstreicht. „Wir wollen zeigen, dass auch diese Musik im Mozartfest des 21. Jahrhunderts ihren Ort hat, weil es Ausdruck unserer musikalischen Gegenwart ist; auf klassischen Werken fußend in Adaptionen, Arrangements oder Neukompositionen. Klassik darf auch unterhalten – wie es bei Mozart nicht anders war.“ Die „Unexpected“-Reihe bringt auch mit ihrer Programmfarbe „Freispiel“ zusehends mehr Diversität in den traditionsreichen Rahmen. Das Festival wird bunter, wie ein Blick auf die Palette zeigt.

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Rosa glänzte es an zwei Abenden in den bauchigen Gläsern im Weinkeller der Residenz. Das 2022 im „MozartLabor“ unter Leitung von Konzertdesigner Thomas Posth projektierte Wandelkonzert „Lockungen“ war experimentell und interaktiv, sowohl was die Klänge als auch das Zusammenspiel mit dem Publikum anging. Das Würzburger Vokalensemble La chant trouvé führte durch das stimmungsvoll illuminierte Gewölbe. Aber Vorsicht: Nicht alles war, wie es schien, denn auch die Irritation gehörte zum Konzept. Nicht trinken nämlich sollte der Gast den im Glas gereichten Wein, sondern dem schimmernden Rotling widerstehen. Erst bei Eriks Ešen­valds’ „Stars“ erhellte sich, welch wunderschöne Wahrheit der mitgeführte Wein verbarg: einen elementaren Ton, erzeugt durch das Kreisen des Fingers auf dem Rande des Kelchs.

Eine eigens programmierte App war im Spiel beim „Dating Concert“ des „Orchesters im Treppenhaus“. Das Publikum war aufgerufen, immer dann auf den Handy-Bildschirm zu tippen, wenn sich das Gefühl des „Gefällt mir“ einstellte. Nach dem ersten Konzertteil arrangierte die digitale Anwendung für jeden und jede in einem eigenen Raum der Residenz eine individuelle Verabredung mit passgenauer Musik. Jedem „Anschlusstermin“ war eine von acht Farben zugeordnet. Wer zum Beispiel intensiv das perkussiv-rhythmische Cello-Konzert von Schos­takowitsch oder von der Stimmung her vergleichbare Passagen in den anderen Stücken gelikt hatte, wurde über die Farbe Blau mit Schulhoffs Concertino für Flöte, Bratsche und Kontrabass verbandelt. Und siehe da: Das Match war perfekt. Andere Voting-Ergebnisse führten zu anderen Dates; so gab es für nahezu jeden musikalischen „Topf“ einen „Deckel“.

Neben dem „Dating Concert“ brachte sich das „Orchester im Treppenhaus“ beim Mozartfest 2023 mit einer Programmwiederholung ins Festival ein: „Disco“ kam im vorigen Jahr so gut an, dass ein „Da capo“ im Bürgerbräu-Maschinenhaus ein Muss war. Willkommen im Club! Farbige Punkte tanzen über Decke, Wände, Köpfe. Alles ist in Bewegung: Licht, Mensch und Musik. Wummernde Tieftöner, elektrisierende Bläser, abgefahrene Streicherpassagen. Alles elektronisch verstärkt und vom Tonmeister gemischt. Hier geht was, hier geht es ab. So viel Spaß kann ein Kammerorchester machen? Aber ja. Thomas Posth ist jetzt mehr Bandleader als Dirigent, mehr Animateur als Musikvermittler. Er gibt vor – seinem Ensemble und dem Publikum auch und taucht mitunter selbst ein in diesen mitreißend schillernden klanglichen Kosmos. „Disco“ lebt vom Augenblick. Und funktioniert ganz ohne Basiswissen Klassik.

„Das ,Dating Concert‘ und auch die ,Disco‘ mit dem Orchester im Treppenhaus haben ein Publikum mit dem Mozartfest verbunden, wie es zuvor noch nicht mit uns in Kontakt war: jünger, extravagant, optisch erfrischend und unkonventionell“, stellt Evelyn Meining fest. „Natürlich soll es nicht um Äußerlichkeiten gehen, aber mitunter hören wir, dass für das von uns angesprochene jüngere Publikum, das wir für die Klassik begeistern möchten, die vermeintlichen Codes der Klassikbranche eine Hemmschwelle sind. Konzerte, die Live-Erleben mit digitalen Themen verbinden, oder Orches­termusik, zu der man richtig abtanzen kann, sind ideal geeignet, um neue Besuchergruppen spielerisch abzuholen.“

Thomas Posth zieht mit seinem Blick auf das Mozartfest einen Vergleich. Wäre das Festival ein Wald, dann sei es lange als Monokultur angelegt gewesen. Nun sei die Intendanz dabei, diesen Organismus vielfältiger zu machen und anderes, vielleicht auch Fremdes einzubinden. Es sei „eine Kunst, die neuen Bäume kontinuierlich zu pflegen“. Das Ziel sei ein am Ende „gemischter Wald“. Integrierend, inkludierend, erquickend und nachhaltig auf Zukunft angelegt. Diesen Erneuerungsprozess nährt auch die Kulturstiftung des Bundes. Sie hat das Mozartfest in sein Pilotprogramm „tuned – Netzwerk für zeitgenössische Klassik“ aufgenommen.

Eine Brücke zwischen klassischem Konzert-Erleben und veränderten Formen schlug der Streichquartett-Marathon mit Quatuor Voce aus Frankreich, dem Signum Quartett aus Deutschland und dem Bennewitz Quartett aus Tschechien. Am Morgen, nachmittags, am Abend und zur Nacht führten sie ihre Diskurse – zumeist mit Mozart und Co., aber bei der „Rock Lounge“ im Residenzgewölbe auch mit Led Zeppelin, Cream und Radiohead. Dass sich die drei Ensembles auf der Zielgeraden des Marathons im Kaisersaal der Residenz mit Mozarts Divertimento D-Dur KV für zwölf Streicher musikalisch in den Armen lagen, zeigte, dass diese Langstrecke nicht Wettbewerb war, sondern ein Etappenlauf im gemeinsamen Interesse. Wären hier Medaillen vergeben worden, strahlten sie in Gold.

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