Hauptbild
Anna Korsun IN THE CAGE mit dem Streichquartett des Ensemble Musikfabrik. Foto: Janet Sinica

Anna Korsun IN THE CAGE mit dem Streichquartett des Ensemble Musikfabrik. Foto: Janet Sinica

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Klingbild humaner Verständigung

Untertitel
Das Ensemble Musikfabrik spielt Werke ukrainischer Musikschaffender
Vorspann / Teaser

Seit zwei Jahren ist der Krieg gegen die Ukraine unvermindert tödlich, brutal und laut. Still wurde es dagegen um die Solidaritätskonzerte, die im Frühjahr 2022 vielerorts stattfanden. Neben dem allseits bekannten Valentin Silvestrov wurden damals einem breiteren Publikum auch viele weitere Komponistinnen und Komponisten aus dem angegriffenen Land näher gebracht, die in der deutschen und europäischen Szene der neuen Musik allerdings teilweise zuvor bereits Wertschätzung erfahren hatten. 

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Seitdem hat sich das Ensemble Musikfabrik beharrlich weiter für ukrainische Musikschaffende eingesetzt, etwa im Juni 2023 in Bonn beim Konzert „Widerstand der Klänge“ mit Werken von Leonid Hrabovsky, Maxim Kolomiiets und Adrian Mocanu unter Leitung von Viktoriia Vitrenko. Anlässlich des zweiten Jahrestags des russischen Überfalls widmete die Spitzenformation nun ihre Reihe „Montags­-
konzerte“ – einmal pro Monat im eigenen Studio bei freiem Eintritt stets gut besucht – ukrainischen Musikschaffenden. Das von Trompeter Marco Blaauw zusammengestellte Programm verdankte seinen Titel „In The Cage“ dem kurz nach Kriegsbeginn entstandenen Streichquartett von Anna Korsun.

Die 1986 in Donezk geborene und mittlerweile in Berlin lebende Komponistin erklärte im Einführungsgespräch, keine bestimmten Bedeutungen oder Kontexte beschwören zu wollen. Allerdings verwendet sie Alltagsgegenstände, die außermusikalische Zusammenhänge transportieren. Und vor allem errichtet sie um die vier Streicher einen Bauzaun und lässt die Eingesperrten gleich zu Anfang energisch auf Saiten und Styropor kratzen, quietschen und aus vollen Kehlen schreien. Später folgen ruhigere Abschnitte mit weichem Summen, Murmeln, sirrenden Klangflächen und gestrichenen Weingläsern. Der gegen das Auditorium quadratisch abgegrenzte Innenraum des Quartetts ist augen- und ohrenscheinlich nicht nur Käfig, sondern markiert auch eine geschützte Empfindungs-, Privat- und Intimsphäre. Es gibt sanfte Glissandi, mikrotonale Schwebungen, silberhelles Glöckchenklingen sowie feinstes Flirren und Schwirren wie von im Abendlicht tanzenden Mücken. Zwischenzeitlich und erneut besonders heftig am Schluss wird allerdings ohrenbetäubend gegen den Metallzaun gestrichen, gekratzt, gescheppert, geschlagen, geschrien. Ein Schelm beziehungsweise Holzklotz, wer da nicht an die Verzweiflung von Gefangenen denkt, auch wenn offen bleibt, um was für einen Kerker es sich handelt: politisch, sozial, psychisch?

Als Uraufführungen waren zwei von der Kunststiftung NRW geförderte Kompositionsaufträge zu erleben. Der in Luzern noch studierende Anton Koshelev kontrastiert in „Lonely Courage“ für Trompete solo weite Linien und Läufen mit kurzen Akzenten und Signalen. Die Elemente sind pointiert, proportional klar gesetzt und formal verklammert, bleiben insgesamt aber kühl und mitteilungslos. Anna Arkushynas „Crown Shyness“ ist dagegen genuine Kammermusik voll sprachähnlicher Situationen und Gesten. Trompete, Horn und Tuba halten Reden und Gegenreden, fallen sich ins Wort, machen sich übereinander lustig, verspotten oder bekräftigen sich, bilden wechselnde Allianzen, sprechen alleine, paarweise oder zu dritt miteinander, gegeneinander, übereinander. Der englische Titel bedeutet „Kronenschüchternheit“ und beschreibt den Umstand, dass sich Bäume im Wald mit ihren Kronen nicht berühren. Die ehemalige Studentin von Beat Furrer in Graz sieht darin eine Metapher für rücksichtsvolles zwischenmenschliches Verhalten. An solchem Vorbild gemessen hätten die drei lebhaft quasselnden Bläserpartien von den stummen Bäumen noch manches zu lernen.

Gänzlich anderen Charakters ist Arkushynas bereits 2015 entstandene, wunderbar ruhige Klangfarbenmusik „The Song of Future Human“. Die Besetzung mit Klavier, Streich-, Blas- und Schlaginstrument ist denkbar heterogen. Doch die vier Instrumente versuchen all ihren baulichen, spieltechnischen und klanglichen Verschiedenheiten zum Trotz, sich gegenseitig gelten und hören zu lassen, zu verstehen und Gemeinsamkeiten zu finden. Man lässt sich respektvoll ausreden, geht behutsam aufeinander ein, nähert sich vorsichtig an, verbindet sich zu Duos, und bildet zusammen neue Klangfarbenmischungen. Das musikalische Geben und Nehmen ist ein zerbrechliches Klingbild der Hoffnung auf humane Verständigung. Inmitten der real tobenden Kriege der Gegenwart geht es in diesem zarten Stück Musik um nichts Geringeres als den Traum von einer friedfertigen Menschheit. Was Instrumente können, sollte schließlich auch Menschen möglich sein. Und tatsächlich sind viele Menschen längst aktiv, etwa die Mitglieder des Deutsch-Ukrai­nischen Vereins „Blau-Gelbes Kreuz“, die am Rande des Konzerts über ihren Verein informierten. Die Kölner Bürgerinitiative brachte allein 2022 fast 11 Millionen Euro Geld- und Sachspenden in die Ukraine. Jeder helfe, wie und wo er kann.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!