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Das Mandelring-Quartett in Fahrt. Foto: Ralf Ziegler
Das Mandelring-Quartett in Fahrt. Foto: Ralf Ziegler
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Konsequenz und Neugier, Offenheit und Entschiedenheit – Ein Hörfest im Berliner Radialsystem zum 30. Geburtstag des Mandelring-Quartetts

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„Was Sie hier machen, straft alle Veranstalter Lügen, die behaupten, das wollten die Leute nicht“, lobte Folkert Uhde das Publikum im Radialsystem Berlin. „Und die Spannung steigt! The winner is ...“ Gut gelaunt präsentierte der künstlerische Leiter dieser experimentierfreudigen Kulturstätte die Programmauswahl, die die Besucher der nicht weniger als fünf Geburtstagskonzerte des Mandelring-Quartetts getroffen hatten.

Mit diesem Wochenend-Marathon zur Feier seines 30-jährigen Bestehens bewiesen Sebastian und Nanette Schmidt (Violinen), ihr Bruder Bernhard am Cello sowie der „erst“ zur Halbzeit vor 15 Jahren dazugestoßene Bratschist Roland Glassl, wie sehr sich ein Ensemble durch Konsequenz und Neugier entwickeln und zugleich die Qualität seiner Interpretationen halten kann, im Musikbetrieb einen relativ eigenständigen Weg gehen und diesen auch noch einer breiten Zuhörerschaft auf unterhaltsame Weise vermitteln kann. Der gewählte Rahmen begünstigte die enge Kommunikation: Im Radialsystem, der leicht anmodernisierten Maschinenhalle des alten Wasserpumpwerks an der Spree, saß man den Musikern quasi „auf dem Schoß“, auf engen Stuhlreihen im Karree um ein winziges Podium herum, auf dem mitgebrachte Geburtstagsblumen dennoch ihren Platz hatten.

Streichquartett-Hauskonzerte

In solcher Hauskonzert-Atmosphäre ließ sich nicht nur jedes Detail schärfer als üblich beobachten, sondern auch ein Klang erleben, der in den meist zu großen Kammermusiksälen häufig verloren geht: Profilschärfe und farbliche Charakteristik jedes einzelnen Instruments, namentlich der Mittelstimmen. „Wenn nötig wählen wir durchaus einen fokussierten Klang, der ermöglicht, wirklich vier Stimmen zu hören und nicht über alles einen Schleier legt, in dem man vielleicht eine Oberstimme und eine Basslinie wahrnimmt, dazwischen einen Wohlklang der aber nicht so klar zu hören ist. Dafür muss man übrigens ganz anders spielen als im solistischen Spiel, schärfer und durchdringender. Wohlklang und Homogenität sind nicht so wichtig wie das Hervortreten der Einzelpersönlichkeit, die interessante Dinge zu sagen hat“, umreißt Bernhard Schmidt das Klangkonzept der Mandelrings.

… serioso …

In Beethovens „Quartetto serioso“ op. 95 etwa wurde plötzlich klar, wieviel Strukturierendes, aber auch ausdrucksvoll Bedeutsames hier den Mittelstimmen anvertraut ist. Dieses Werk war vom Publikum gnadenlos als Einstieg in die ganze Reihe gewählt worden. „3 aus 30“ hieß die Methode, die fünf hochinteressante und dem jeweiligen Anlass erstaunlich angemessene Programme gewährleistete. Aus den etwa 350 Werken seines Repertoires hatte das Quartett 30 „Lieblingsstücke“ zusammengestellt, davon je zehn für die erste, zweite und dritte Position eines Konzertes bestimmt. Dass die Wahl nie zu populär oder zu konservativ ausfallen konnte, dafür sorgte allein schon das hochklassige Angebot. So machten die „zweite Position“ ausschließlich Werke des 20. Jahrhunderts aus. Doch auch das Publikum setzte einen eher progressiven Akzent. Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ – immerhin vielleicht das berühmteste Quartett der gesamten Literatur – wurde eben nicht fünf Mal gewählt, wie Uhde dies prophezeit hatte – „ich wäre darauf gespannt, das fünf Mal zu hören“ –, sondern „nur“ zwei Mal, zum Abschluss des ersten und letzten Konzerts. Und dies  in einer Interpretation, die keinesfalls wohliges Baden in Harmonie und Gefühlsseligkeit zuließ: In scharf pointierter Rhythmik und aufgerauht-abgespeckter Tongebung raste das ganze Geschehen auf den „Totentanz des Finales zu, in dem sich Lyrisches seltsam fremd ausnahm, beklemmend – „schauerlich“ hatte Schubert ja auch seine „Winterreise“ genannt.

Kaleidoskop klanglicher Erlebniswelten

Fast schon nicht mehr verwunderlich, dass man auch das 1. Streichquartetts von György Ligeti zweimal hören wollte. 1953, noch vor der Ausreise des Komponisten aus Ungarn entstanden, wurde es von diesem denn  auch als „Vor Ligeti“ apostrophiert und weist doch vor allem in Persiflagen traditioneller und trivialer Muster schon auf Späteres wie „Grand Macabre“ voraus. Darin wie auch im Rückgriff auf den musikalischen „Ziehvater“ Bartók, auf seine wispernden „Stimmen der Nacht“ oder seine dissonant zugespitzte Motorik“, wirkt das Werk hochgradig reflexiv, als eine Art „Meta-Musik“, eröffnet gerade dadurch auch dem Publikum ein Kaleidoskop klanglicher Erlebniswelten. Nicht weniger spektakulär die Wahl zweier Schostakowitsch-Quartette: Im zweiten Abendkonzert erklangen vor der Pause Nr. 3 und danach die aufgrund ihrer ausladenden, einsätzigen Anlage schwer zugängliche Nr. 9.

„Ein großes und wichtiges Projekt“ war die Aufführung aller 15 Schostakowitsch-Quartette vor zwei Jahren am selben Ort gewesen; seine starke Resonanz wirkte bei dieser Wahl vielleicht noch nach. Auch diesmal wurde diese spröde, zerbrechliche Musik, deren Ausdruckspotential eine transparente und differenzierte Wiedergabe geradezu entblößte, mit großer Aufmerksamkeit und spürbarer Bewegung entgegengenommen. „Während die Sinfonien eher äußere Geschehnisse im Leben Schostakowitschs reflektieren, in gewisser Weise sogar die Geschichte der Sowjetunion nachzeichnen, kann man die Quartette als eine Art musikalisches Tagebuch betrachten“, erläuterte Primarius Sebastian Schmidt.

Von den Quartettmitgliedern reihum gegebene Informationen vor jedem Werk lenkten die Aufmerksamkeit auf Historisches, Biografisches, Strukturelles und trugen zur kommunikativen Atmosphäre bei. Im übrigen wurden im Foyer alle 30 Werke per Videoclip erklärt, quasi „beworben“ – Pausenunterhaltung oder listenreiche Beeinflussung? Schade war sicherlich, dass es etwa Berthold Goldschmidts Zweites, Bartóks Drittes oder Mendelssohns op. 80 nicht zur Aufführung „geschafft“ hatten. Doch Janáček, Ravel, mittlerweile selten gespielter Haydn und Mozart oder auch die Frühromantik eines Georges Onslow entschädigten dafür.

Interpretation auf Zuruf

Bewundernswert, wie all dies quasi „auf Zuruf“ mit interpretatorischem Feuer auf der Grundlage technischer Perfektion bewältigt wurde. „Manche Kollegen spielen vor dem Konzert das ganze Programm durch, wir spielen nur an“, erklärt Bernhard Schmidt. „So ergeben sich viele Entwicklungen ganz spontan.“ Natürlich auf der Basis eines ausgearbeiteten Konzepts, „das aber gar nicht immer ausdiskutiert wird, weil sich gar nicht alles verbalisieren lässt. Das ist einfach ein enormer Prozess des Zusammenarbeitens, an dem man reifen kann, bei dem man aber auch merkt, wenn man dem offen gegenübersteht, dass manches Frühere heute gar nicht mehr so entscheidend ist.“

Genaues und geduldiges Experimentieren gerade in den Anfangsjahren hat aber die Voraussetzungen geschaffen für die heutige „sehr entspannte Art, miteinander umzugehen“, in der Erfahrungswerte in neue Entwicklungen münden. Qualitäten können auch dadurch entstehen, dass man durchaus manchmal alle Diskussionspartner Recht haben lassen kann und die „richtige“ Version gerade aus solcher Offenheit hervorgeht. Dass hier nichts in Routine erstarrt, sondern alles frisch bleibt wie am ersten Tag, dafür sorgt schon „unsere wunderbare Aufgabe, dieses immense Repertoire immer weiter zu erschließen. Zu wissen, dass es auch nach 30 Jahren noch so viele Werke gibt, die wir noch machen können und auch machen werden, das erfüllt uns mit großer Freude und auch Neugier.“

Selten gespielte Werke

Das Hambacher Musikfest, 1997 von den Mandelrings gegründet und seitdem von ihnen künstlerisch geleitet, gibt ihnen besonders Gelegenheit, sich selten gespielten Werken zuzuwenden. Dabei bestehen zur Moderne keine Berührungsängste – auch wenn diese häufig das Etikett „gemäßigt“ trägt. An der „Rehabilitation“ und neuerweckten Kreativität Berthold Goldschmidts, den die Nazis 1935 ins Londoner Exil trieben und der daraufhin für Jahrzehnte musikalisch verstummte, hatte das Ensemble entscheidenden Anteil; sein Quartett Nr. 4 schrieb ihm der jüdische Komponist neoklassisch-expressiv „auf den Leib“. Der ungleich härteren und schärferen Ausdrucksweise des Israelis Tzvi Avni, der unter seinem Geburtsnamen Hermann Jakob Steinke mit seinen Eltern ebenfalls 1935 von Saarbrücken nach Palästina gelangte, nahm sich das Mandelring-Quartett zu dessen 80. Geburtstag an. Friedrich Gernsheim, auch er durch die Nazis „totgeschwiegen“ und in Vergessenheit geraten, Felix Otto Dessoff und Heinrich von Herzogenberg sind neu entdeckte Brahms-Zeitgenossen.

Der Schostakowitsch-Freund Mieczyslaw Weinberg steht noch auf der Warteliste – „man kann nicht alles machen“, lautet da das betrübliche Fazit, „und es hängt von ganz verschiedenen Komponenten ab, ob man ein Werk in sein Repertoire aufnimmt. Es gibt konkrete Anlässe, oder es muss zu einem bestimmten Konzept passen. Und es ist uns wichtig, hundertprozentig hinter allem stehen zu können, was wir machen, und zwar alle vier!“ Ein ganz besonderes Profil resultiert daraus, anspruchsvoll und kommunikativ, flexibel und entschieden zugleich, mit Mut und heißem Herzen für Unbekanntes, Vernachlässigtes und Vergessenes, vornehmlich auch einer „Zwischenkriegs-Moderne“ des vergangenen Jahrhunderts, die von als „entartet“ erklärten Komponisten entscheidend geprägt wurde – die nächsten 30 Jahre erwarten wir mit Spannung!

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