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Szenenfoto: „Siegfried“ Foto: © Bayreuther Festspiele GmbH 2015 / Foto: Enrico Nawrath
Szenenfoto: „Siegfried“ Foto: © Bayreuther Festspiele GmbH 2015 / Foto: Enrico Nawrath
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Krokodil-Nachwuchs auf dem Alexanderplatz – „Siegfried“ bei den Bayreuther Festspielen

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Im Sonderpostamt auf dem Bayreuther Festspielhügel werden zwei Sonderstempel angeboten, einer zu „Tristan und Isolde“ und einer zur Kinderoper „Parsifal“. Besonderer Beliebtheit erfreut sich dort die Sonderbriefmarke von Pina Bausch, zitiert doch Frank Castorfs Inszenierung des „Siegfried“ mit den Krokodilen Pina Bauschs „Keuschheitslegende“.

Bei Bauschs Premiere in Wuppertal war seinerzeit erst ein Krokodil fertiggestellt, für die Nachfolgeaufführungen erfolgte dann sukzessive die Erweiterung um immer Krokodile. Auch in Frank Castorfs Inszenierung, die sich mit dem Krokodil auf ein Wort Richard Wagners berufen kann, der Siegfried und den Drachen auch Kasperle und dem Krokodil genannt hatte, begann es 2013 mit zwei Krokodilen, dem im Vorjahr ein junges und in diesem Sommer ein weiteres Babykrokodil nachfolgten.

Castorfs Erzählweise, die unter Auslassung des „Walküre“-Exkurses direkt an den Parodos des „Rheingold“, mit seiner prall und drall farbigen Bilderwelt anknüpft, will gleichermaßen verstören, wie unterhalten. Das Felsenmassiv mit den plastischen Häuptern der kommunistischen Revolutionäre Marx, Lenin, Stalin und Mao (Brünnhilde: „Heil euch, Götter!“) auf der einen Seite der Drehscheibe, und Berlin Alexanderplatz auf der anderen, scheinen geradezu Wagners Textvorgabe „Dann wär’s nicht weit von der Welt? – Bei Neidhöhle liegt sie ganz nah“ einzulösen. Plakativität der Spielorte und Erzählweisen dieser intermedial und polysemantisch frei wiedergegebenen Handlung sorgen weiterhin für eine Spaltung des Publikums, wie sie Bert Brecht für das Theater gefordert hatte.

Später schlägt Mime dem Marx als „verfluchtes Licht“ auf die Nase und Siegfried klopft auf Stalin ein, im dritten Aufzug werden die Köpfe von Lenin und Stalin mit Projektionen von Siegfried und Wotan überblendet, und in einer Projektion des zweiten Aktes hebt Alberich die Faust zum kommunistischen Gruß.

Vor Aleksandar Denićs mit allerlei besteig- und erkletterbaren Gerüsten sowie einem Lasten- und Personenlift eingerüsteten sozialistischen Parodie auf den Mount Rushmore, steht der von Mime mit allerlei Wohlstandsunrat angereicherte silberne Wohnwagen der Nibelungen, inklusive der aus dem Golden Motel mitgenommenen Liegestühle. Der Tankstellenwärter (Patrick Seibert) wurde in Fesseln ebenfalls mitgeführt; ihn benutzt Siegfried als Schreck-Bär und von Mime als Küchen-Underdog, sichtbar zum Schwarzen geschminkt. Als der mit Sonnenbrille inkognito auftretende Wanderer erscheint, richtet der Underdog die Antenne des Wohnwagens neu aus. Nach Fafners Tod bemüht er sich mit Notfallkoffer vergeblich um Erste Hilfe, und nach Mimes Tod arbeitet er als Kellner und Nachwende-Stasi-Spitzel am Alexanderplatz.

Mime spielt mit einem Regenschirm Golf. Offenbar wissbegierig, hat er Berge von Büchern aufgetürmt und löst somit die Wissenswette sinnfällig selbst aus. Mime reißt dem Wanderer das Hemd auf und entdeckt ein Kreuz als Tätowierung – für ihn die Bestätigung, dass es sich bei diesem Besucher tatsächlich um Wotan handelt (Assoziation zu einem auf der Brust eines dann entlassenen Bayreuther Bassisten entdeckten Hakenkreuzes vor drei Jahren?). Wotan zertritt daraufhin selbst seine Sonnenbrille.

Für den Schmiedevorgang entzündet Siegfried ein Feuer mit aus Büchern herausgerisssenen Seiten. Der Regisseur spannt den Bogen von Wotans Siegschwert zur Kalaschnikow: das Metall, das Siegfried schmiedet, dient sowohl als renoviertes Schwert, wie auch als Messer (für den Mord an Mime) oder Pflugschar („Komm mein Schwert, schneide das Eisen“) und obendrein auch als Munition in jener lautstarken Feuerwaffe, die Siegfried gegen den gar nicht gefährlich wirkenden, am Alexanderplatz lebenden, von einem Harem fünf verwöhnter Damen umgebenen Fafner einsetzt; dass der ein Krokodil als Haustierdrachen mit sich führt, scheint Siegfried zunächst nicht zu kümmern. Erst als das männliche Reptil nach einem Kopulationsakt die im Schlussakt ohne Flügel des Waldvogels auftretende Jugendliebe Siegfrieds verschluckt, schlägt Siegfried dem Krokodil wie Kaperle aufs Maul und zieht die Geliebte aus dessen Schlund ins Leben zurück.

Leider bedeutet die Neubesetzung des Mime keinerlei Verbesserung, denn Andreas Conrad lässt Einsätze und Töne weg und rettet sich mehr sprechend denn singend über die Partie. Einen Glücksfall bedeutet hingegen der neue Siegfried: Stefan Vinke verfügt über eine gesund gewachsene Stimme. Und selbstbewusst erhebt Vinke die Ich-Hand, wenn er vom „Fink [der] frei sich davon schwingt“ singt. Bereits mit den ersten Einsätzen erweist sich Vinke als ein Heldentenor alter Schule. Lust- und kraftvoll und ohne stimmliche Rücksichten, schmettert er die Schmelz- und Schmiedlieder des ersten Aufzuges und scheint am Ende des Abends immer noch taufrisch, um Brünnhilde im Duett ein adäquat leistungsstarker Partner zu sein. Catherine Foster fasziniert erneut mit ihren satten, weichen Piani, die sie bruchlos zu runden Fortes anwachsen lässt. Der Schlagabtausch des zweiten Aufzugs zwischen Wanderer und Alberich, zwischen den Fach-Kollegen Wolfgang Koch und Albert Dohmen, erweist sich stimmlich als ein Patt. Allerdings ist Dohmen in der Partie des Nachtalben noch zu textunsicher. Koch triumphiert stimmlich im dritten Aufzug, wo er auch in der individuellen Rollengestaltung als Spaghetti schlingender, Rotwein saufender, von seiner Ex-Geliebten Erda oral befriedigter und dann die Zeche prellender Wotan dieses szenisch ungewöhnliche Rollenprofil optimal verkörpert. Das an Albeees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ gemahnende Auf und Ab des alten Liebespaares zwischen heftiger Ablehnung und immer noch ungebrochener sexueller Faszination trägt mit wechselnden Perücken und betörend schönem Gesang Nadine Weissmann.

Mit der Leichtigkeit seines Bassfundaments gefällt Andreas Hörl als schlacksiger Fafner. Mirella Hagen, die trotz übergroßer Flügel á la Friedrichstadtpalast (Kostüme: Adriana Braga Peretzki) alle engen Treppen ebenso bewältigt, wie die Höhen und Ausspracheklippen der Partie des Waldvogels, animiert Siegfried zur alternativen Plastikabfall- und Wasserpfützen-Bühnenmusik (anstelle von Schilfrohr und Horn) und verschafft ihm erste körperliche Erfahrungen mit (Wald- bzw. Revue-)Vögeln.

Wieder bietet Kirill Petrenko mit dem prachtvoll gestimmten Bayreuther Festspielorchester mehr als ein Gegengewicht zur Szene. Höhepunkte sind die gewaltige Sturmmusik des Vorspiels zum dritten Aufzug, die beklemmende musikalische Finsternis im Vorspiel zum ersten und die basslastige Atmosphäre im Vorspiel zum zweiten Aufzug, triumphal die Steigerung im Schlussakt und das Ende. Die Solisten begleitet er sicher, trägt im Zusammenspiel die gesanglichen Höchstleistungen.

Nachdem Brünnhilde den Siegfried aus der Umarmung mit dem Waldvogel-Mädchen gelöst und mit dem Schlussakkord ihr Recht auf einen Kuss eingefordert hatte, brandeten nach dem Verklingen wütende Buhrufe auf. Sie schlugen um in Begeisterungsovationen, als die ersten Gesangssolisten vor den Vorhang traten. Den meisten Zuspruch erhielten diesmal die Titelpartie und der Dirigent.

Ob sich die Bühne in den nächsten Sommern mit noch mehr Krokodilen füllen wird?

  • Die nächsten Aufführungen: 12. und 24. August 2015.

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