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Juho Stén (Simon) und Alina Berit Göke (Jemina). Probenarbeiten zu „Lazarus oder die Feier der Auferstehung“ | Bayerische Theaterakademie August Everding. Foto: Cordula Treml

Juho Stén (Simon) und Alina Berit Göke (Jemina). Probenarbeiten zu „Lazarus oder die Feier der Auferstehung“ | Bayerische Theaterakademie August Everding. Foto: Cordula Treml

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„Lazarus“ contra Barabbas: Die Bayerische Theaterakademie im Bergson Kunstkraftwerk München

Vorspann / Teaser

Die drei Vorstellungen des Hybrids aus choreographiertem Oratorium, Melodram und Schauspiel war eine Idee der Regisseurin Martina Veh. Sie switchte diese Produktion der meist im Prinzregententheater auftretenden Bayerischen Theaterakademie ins Bergson Kunstkraftwerk München. Außerdem war es Vehs Vision, das von Franz Schubert im Jahr 1820 abgebrochene Fragment „Lazarus oder Die Feier der Auferstehung“ nach einem von August Hermann Niedermeyer für Johann Heinrich Rolle bestimmten Textbuch mit dem Bühnenmonolog „The Blind“ von Richard France zu verschränken. Das Schubert-Arrangement setzte Joachim Tschiedel, andere Musik stammt von Alexander Strauch.

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Ein ambitioniertes wie höchst komplexes Gedankengebäude ist dieses der christlichen Ikonographie abgerungene Doppel von Lazarus und Barabbas – mindestens so groß wie das Bergson Kunstkraftwerk in München-Aubing mit drei Ebenen unterschiedlicher Größe, auf denen das Publikum in der von Tageslicht umspielten Nachmittagsvorstellung, abends in der als spektakulär bezeichneten Lightshow von Ramona Lehnert wandeln und wechselnde Perspektiven einnehmen konnte. Die wenigsten Anwesenden nahmen das Angebot zur topographischen und akustischen Erkundung wahr. Ihnen entging etwas. Es gibt nur wenige Räume, in denen die akustischen Relationen von Stimmen und Instrumenten, laute Trockenheit und intensive Fülle der Tonproduktion derart unterschiedlich wahrnehmbar werden wie im Bergson. Ein idealer Raum also für Neue Musik und generell alle Effekte, die man anderenorts nur mit subtiler Sounddesign-Expertise erzeugen könnte.

Blendende Raum- und Akustikeffekte zeichneten also auch die 80 Minuten dieses breit ausladenden wie abstrahierenden Doppeldramas um die letzten Dinge mit gelegentlichen Berührungspunkten aus: Warum kommt der von Legenden und Mutmaßungen umschwärmte Barabbas auf Forderung der Jerusalemer Volksmassen frei, während Jesus gekreuzigt wird? Die Fülle der philosophischen Fragen überfordert die insgesamt fast 1500 Zuschauer.

Die Musiktheater-Produktionen der Theaterakademie haben einen merkbar starken Publikumsstamm. Der Anspruch ist hier höher als sonst bei Studierendenproduktionen. Man benötigte keinerlei elektronische Hilfsgeräte. Die in bis zu 35 Meter Entfernung agierenden Instrumentalgruppen mit zwei Flügeln, zwei Klarinetten und drei Posaunen klangen im Bergson Kunstkraftwerk schillernd, vibrierend und doch nicht ganz bei sich. Auch für die Stimmen der jungen Sängerinnen und Sänger war Eigeninitiative für den optimalen Akustikpunkt notwendig. Die reibungsintensive Synergie und choreographierte Körperlichkeit sind beeindruckend – vor allem der Zentralfiguren des Lazarus von Henrique Lencastre und des auf die drei Schauspieler Cosimo Scherrer, Ivo Borger und Laurens Gujber aufgeteilten Barabbas. Der Dirigent Joachim Tschiedel erstellte aus Schuberts Instrumentation eine karge, ja asketische Fassung. Das fast immer berückend reine und stellenweise aus sphärischen Höhen singende Frauen-Trio mit RusnÄ— TušlaitÄ—, Lilian von der Nahmer und Alina Berit Göke erlebte Risiken beim vokalen Flügelschwingen zum absturzgefährdeten Ritt über den Bodensee. Die Männer – unter ihnen der bemerkenswert gefasst und sensitiv gestaltende Tenor Mose Lee – hatten es durch vermehrte Bodenhaftung und Treppenläufe etwas leichter. Die spirituellen Lasten wogen schwer, obwohl die Musik dieser mit archaisierender Leichtigkeit und stellenweise atonalem Druck zu entkommen versuchten. 

Die Dramaturginnen Fanny Karos und Annabell Strobel verlieren kein Wort über Tschiedels praktisch-ästhetische Absichten für seine Schubert-Arrangements und die unter erschwerten Bedingungen entstandenen Kompositionen von Alexander Strauch. Keimzelle des Barabbas-Supplements im Bergson war Frances „The Blind“ als Vehs Prolog zur Eröffnung des Neubaus der Münchner Performance-Location Schwere Reiter vor vier Jahren. Die teils schroffen, teils sphärischen Akkorde aus Strauchs „soundscape“ setzte in den Bergson-Dimensionen weniger Kontraste zu Schubert als wohl in kleinerem Räumen. Christl Wein ließ einen von Efeu überwucherten Panzer von der Decke schweben. Ihre uniformen T-Shirts und dunklen Stoffhosen waren punktuelle Wehrinitiativen gegen die kühle Monumentalität des Raums.

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