Unter dem Motto „Musik oder Nichts“ bot das Kölner Festival Acht Brücken dieses Jahr alles und nichts: eine beliebig wirkende Überfülle an Lesungen, Filmen, Gesprächen und rund fünfzig Konzerte mit Beethoven, Bruckner, Jazz, Techno, Pop, Electronica, Soft-Classic, Neo-Romantik und stattlichen 33 Uraufführungen. Immerhin zeigte das zehntägige Festival auch drei erkennbare Programmlinien: zentrale Klangkompositionen der 1960er bis 80er Jahre von Ligeti, Lachenmann und Grisey, ferner ein Rebecca Saunders gewidmetes Porträt, sowie einige Stücke mit und über „Nichts“ im Sinne von Reduktionen bis zum Verstummen.
Die profiliertesten Programme zum Komplex Stille boten der European Workshop for Contemporary Music (siehe separater Bericht) und das Essener Ensemble S201. Analog zu Samuel Becketts gleichnamigem Prosatext murmelten in Saunders’ „Stirring Still“ brüchige Mehrklänge durch den Kleinen Sendesaal des WDR. Gemäß der Wahrnehmungsformel, je weniger Klang, desto mehr Aufmerksamkeit, setzten sich in Elena Rykovas „Life Expectancy. Experience #2“ gleitende Tonhöhen auf mit Bogen geschlagenem Cello raffiniert in der kleinen Trommel fort, deren Fell durch eingeblasene Luft gespannt und dadurch in der Tonhöhe moduliert wurde. Abschließend agierten die sechs Mitglieder von S201 in Ricardo Eiziriks „Junkyard Piece IIIB – Pocket Version“ exakt synchron wie ferngesteuerte Roboter pantomimisch, ruckartig, maschinell, präzise.
Choroper der Hundert
Von seltener Eigenart war Lucia Ronchettis neue Choroper „Chronicles of Loneliness“ nach Texten von Giacomo Leopardi über Einsamkeit, Schlaf, Illusionen und Nichts. Statt einsam ging es auf der Bühne der Kölner Philharmonie jedoch recht gesellig zu. Rund hundert Sänger von Bach-Verein Köln, Kölner Männer-Gesang-Verein, Solistenensemble The Present und Knaben des Kölner Domchors bildeten unter der Leitung von Domkapellmeister Eberhard Metternich verschiedene Formationen auf der Bühne und im Saal.
Dabei entstanden Klangszenerien aus weichen Liegetönen, geräuschvollem Atmen, rhythmischem Sprechen, repetitivem Minimalismus, und Improvisationen zu kreisenden Gospelakkorden. Mit Horn, Trompete und Posaune sang man tonale Choräle wie bei Heinrich Schütz, die plötzlich in Glissandi und Schwebungen zerflossen. Unter Leitung von Susanne Blumenthal spielte das Orchester der Hochschule für Musik und Tanz Köln hoch konzentriert die Uraufführung von Tom Belkinds „Com Pulse Im Pulse“. Der Kölner Kompositionsstudent ließ Schalltrichter, Saiten und Lautsprecher durch Alu- und Plastikfolien dämpfen und knistern, um den Apparat dann schrittweise zu entpacken und intensiver atmen und keuchen zu lassen. Am Ende versank dann alles wieder in rauschenden Lautsprecherzuspielungen und mit Schneebesen bespielten Streichinstrumente, was indes einen mehr sicht- als hörbaren Effekt machte.
In Michael Pelzels uraufgeführtem „Carnatic Pandora“ ließ Geigerin Carolin Widmann leise Unisono-Doppelgriffe zu Schwebungen aufrauen und schließlich in Mehrklänge verzweigen. Mit der Entfaltung des Klangs öffnete sich auch der Raum durch im Saal verteilte Streicher der Basel Sinfonietta unter Leitung von Peter Rundel. Obgleich brillant gespielt, kam jedoch nur epigonaler Neo-Scelsi heraus. Eigenständiger wirkte Bernhard Ganders „Evil Elves: Level Eleven“ für das Raschèr Saxophone Quartet und das Gürzenich Orchester unter Chefdirigent François-Xavier Roth. Die in hohen Lagen wimmernden Saxophone wurden blockweise vom Tutti mit schreienden Clustern, wilden Repetitionen und Rasereien überfahren, bis sich die „bösen Elfen“ ins Tutti schlichen, um es mit sirrendem Serum zu infizieren und am Ende von innen auszuhöhlen. Im Rahmen des „Acht Brücken Freihafen“ wurden am Maifeiertag zehn Konzerte zu freiem Eintritt auch von vielen Menschen dankbar angenommen, die sonst eher keine Veranstaltungen mit neuer Musik besuchen. Das Projekt „KonSequenzen“ präsentierte zwölf neue Solostücke von Milica Djordjević, Yu Kuwabara, Mikel Urquiza und Vito Žuraj. In Anlehnung an Luciano Berios „Sequenze“ galt es einmal mehr, die spieltechnischen Möglichkeiten der Instrumente auszuloten. Durch zweimalige Aufführung sämtlicher Stücke im WDR-Sendesaal und Baptisterium wollte man außerdem die Räume mit ihrer unterschiedlichen Akustik, Atmosphäre und Architektur als Dialogpartner der Solostimmen erfahrbar machen. Die ausgezeichneten Solistinnen und Solisten – unter anderem von Ensemble Musikfabrik und Ensemble Modern – waren ein Erlebnis, obwohl die Serie von zwölf Solostücken keine tragfähige Dramaturgie darstellte.
Kompositionswettbewerb
Beim Internationalen Acht Brücken Kompositionswettbewerb wurden aus rund achtzig anonymisierten Bewerbungen drei Finalisten vom Ensemble ÉRMA unter Leitung von Yorgos Ziavras uraufgeführt. Den mit viertausend Euro dotierten ersten Preis erhielt Po-Chien Liu – Kompositionsstudent bei Günter Steinke in Essen – für „In einem verlassenen Zimmer“, eine vielfarbige Klangkomposition mit am Ende lachenmannesk differenzierten Rauschklängen. Den zweiten Preis erhielt Antonio La Spina für charaktervolle Miniaturen. Der dritte Preis ging an Luca Ricci.
Rebecca Saunders wurde mit neun Werken porträtiert, darunter zwei Novitäten. In der Kunst-Station Sankt Peter war mit „Myriad III“ eine Neufassung ihres zuvor bei den Schwetzinger Festspielen und der Berliner singuhr präsentierten Polywerks zu erleben. Das Berliner ensemble mosaik spielte nacheinander und simultan im Raum situierte Soli, Duos und Kammermusikstücke. Abwechselnd damit wurden auf einer quer durchs Kirchenschiff laufenden Wand immer wieder einige von insgesamt 2464 Spieluhren aufgezogen, die dann dichtes Klingeln hören ließen. Da die kleinen Musikmaschinchen alle den gleichen Ambitus und Klang haben, hätten ein paar Dutzend gereicht, um ihre Melodien bis zur Unkenntlichkeit aufzulösen. Der pure Sonorismus der 1967 in London geborenen Komponistin ist schön und zugleich defizitär, weil ohne historische Tiefendimensionen, gesellschaftliche Zusammenhänge, kulturelle Kontexte und politische Implikationen.
Saunders’ Manierismen
Das Ensemble Modern unter Bas Wiegers präsentierte die Gesamturaufführung von Saunders’ „Triptychon“. Im ersten Teil „Scar“ kommen die Klänge aus dem Nichts und verschwinden wieder darin, so dass Stille als Grundfolie von Musik wie die Leinwand der Malerei hervortritt.
Der zweite Teil „Skin“ besteht aus einem auf der Stelle tretenden Dialog zwischen Flatterzungen „R“ der hervorragenden Sopranistin Juliet Fraser und dem Flatterzungenspiel der gedämpften Trompete. Wie das An- und Abschwellen der Klänge ist auch dies längst ein manieristischer Topos der Komponistin. Im neuen Schlussteil „Skull“ werden Glissandi eine halbe Stunde lang in allen möglichen Varianten ausgebreitet, als handle es sich um ein Stück von Saunders’ Partner Enno Poppe. Erst am Ende überrascht ein solistisches Streichquartett mit plötzlicher Schroffheit, als gelte es, aus den gleichförmig einlullenden Lineamenten auszubrechen.