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Szene aus LIEBE. Foto: Camille Blake
Szene aus LIEBE. Foto: Camille Blake
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Maerzmusik 2016: Am Nordkap schmilzt das Eis

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Mit „LIEBE“ fanden die „Ökonomien des Handelns“ von Hannes Seidl und Daniel Kötter ihren Abschluss als performative Klanginstallation. Dirk Wieschollek analysiert.

„Welch ein törichtes Verlangen treibt mich in die Wüstenein?“, fragt sich das lyrische Ich im Wegweiser von Schuberts Winterreise, die mit leitmotivischer Bescheidenheit durch die monumentalen Wahrnehmungsräume der diesjährigen Maerzmusik irrlichterte. Auch was den Wanderer in LIEBE antreibt, wissen wir nicht genau, der eine Filmstunde lang unerschütterlich durch eine Eiswüste stapft, bis er eine Meeresbucht erreicht – wir sehen ihn von hinten, er hat eine rote Mappe unter dem Arm (als mysteriöser Dokumententräger begegneten wir ihr bereits in RECHT). Sind geheime Anweisungen darin? Persönliche Aufzeichnungen? Tagebuchnotizen, Fotos, Liebesbriefe? Am Ziel trifft der Wanderer schließlich andere Getriebene, gemeinsam wird am Strand ein gekonnt schlecht gemachtes Liebeslied angestimmt, das aus den berüchtigten drei Worten besteht: „I love you.“

Mit geradezu rühriger Lakonie endete die Forschungsexpedition in die „Rahmenbedingungen gesellschaftlichen Handelns“, die der Experimentalfilmer Daniel Kötter und der Komponist Hannes Seidl mit der Trilogie Ökonomien des Handelns vor einiger Zeit angetreten waren. Inszenierten KREDIT und RECHT theorieschwangere Diskursräume mit viel Text (und mindestens soviel Subtext), die sich den rätselhaften Abgründigkeiten des Finanzsystems und den Grundlagen unserer Rechtsordnung als spielerische Doku-Formate widmeten, überraschte LIEBE als weitestgehend entsprachlichte Mischung aus Klanginstallation und Performance, deren konsequenter Minimalismus sich am nördlichsten Punkt Europas inspirierte: dem Nordkap, eher ein Ort der Menschenleere als der Ekstase – weißes Rauschen statt Rausch der Gefühle. So zeigt sich die Liebe in LIEBE zunächst einmal als Abwesenheit und ferne Utopie, ein indifferenter Sehnsuchtsraum und darin Topos romantischer Kunst genauso wie das Energiezentrum des Pop.

Hierzu verschränkte das interdisziplinäre Musiktheater-Gespann Seidl/Kötter wie schon in den anderen Teilen der Trilogie die Ereignisse im Film eng mit einem performativen Bühnengeschehen. Performer Wolfram Sander (der Wanderer aus dem Film) machte sich in den Sophiensälen mit allerhand Werkzeugen an einem Eisblock zu schaffen, aus dem er einzelne keilförmige Blöcke herausmeißelte, um sie nach und nach als tropfende Impulsgeber über ein im Raum verteiltes (Rock-)Instrumentarium zu hängen: Gitarre, Bassgitarre, Keyboards und Schlagzeug, ergänzt durch zwei Plattenspieler, die standesgemäß mit „Eis-Platten“ versorgt wurden. Was also die ersten Minuten so anmutete, wie eine relativ sinnfreie Auseinandersetzung mit der gefrorenen Materie, waren die Vorarbeiten für eine kontemplative Klangmaschinerie, die durch Steigerung der Tropffrequenz (am Ende forciert durch Heizstrahler) sukzessive ein immer komplexeres und farbigeres Klang-Gewebe produzierte. Am Höhepunkt dieses zunehmend geräuschintensiven Verdichtungsprozesses waren die ächzenden Rhythmusschleifen in gleißendes Licht opulenter Scheinwerferbatterien und Trockeneisnebel getaucht.

Wenn das Eis schmilzt, ist der metaphorische Wühltisch zwischen Leidenschaft, Vergänglichkeit und Klimakatastrophe naturgemäß schwer beladen. Allzu wörtlich war der in LIEBE implizierte Kitschfaktor aber nicht zu nehmen. Auch wenn sich hier offensichtlich Kälte in Sinnlichkeit und Abstraktion in Expressivität verwandelte, war es den Akteuren nach eigenem Bekunden weniger um die Erkundung pathetischer Zwischenmenschlichkeit und irrationaler Gemütszustände zu tun als um die Veranschaulichung von Liebe als einem energetischen Prozess, der die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. In diesem Sinne verkörperte LIEBE keine musiktheatrale Reflexion zum Wesen der Liebe, sondern eine mit naturwissenschaftlicher Zwangsläufigkeit ablaufende Transformationsmechanik, deren Poesie jedoch total gegenwärtig war.

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