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Foto: Ronny Ristok
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Maschinenmensch ohne Moral: Philip Glass‘ „In der Strafkolonie“ in Gera

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Station Drei der fünf Inszenierungen von Philip Glass' „In the Penal Colony“ an deutschen Theatern in der Spielzeit 2019/20: Auch auf der Bühne am Park des Theaterhauses Gera spielt man die deutsche Übersetzung von Cordula Engelbert und Bettina Rohrbeck. Hier ist Töten die Aufgabe eines nicht näher spezifizierten Mischwesens zwischen Mensch und Maschine. Das hat Konsequenzen für die dadurch drastisch reduzierte Vielschichtigkeit von Franz Kafkas Erzählung. Denn eine programmierte Maschine hat keine Verantwortung für die von ihr vollbrachten Hinrichtungen – der Mensch schon, selbst wenn er im Auftrag anderer handelt. Von Roland H. Dippel

Seltsam fern wirkt dieser dunkle, kühle Bühnenraum trotz des attackierend beklemmenden Sujets. Den szenischen Hauptpart haben neben den drei Darstellern René Grüners Videos auf einen mit Gaze bespannten Würfel: Eine Gefängnis- und Energiezelle, Versorgungs- und Entsorgungsraum für zappelndes und leidendes Menschenmaterial. Darin ein Mann ohne Nahrung, fast nackt. Aus den Mikrofonen, die jedem der fünf Streichinstrumente an der Seite der Spielfläche zugeordnet sind, speist sich mittels der von René Grüner programmierten und gesteuerten Projektionen ein Linien-Tohuwabohu von Vektoren, Quadraten, Ornamenten und Schriftzügen nach Musik von Glass. Es hätte spannend werden können, wie sich diese sichtbar gemachten Musikströme mit Kafkas in existenzielle Grenzbereiche vordringenden Text „Aus der Strafkolonie“ verzahnen und verbeißen. Doch dazu kam es nicht, weil die Schauspielregisseurin Angelika Zacek in ihrer ersten Musiktheater-Produktion nur zaghaft zupackte und deshalb bei den am meisten beklemmenden Stellen zu undeutlich bleiben musste. Schade, denn auf der Geraer Bühne am Park stand ihr ein starkes Ensemble zur Verfügung.

Die Konfrontation des beobachtenden Besuchers in jener Strafkolonie, wo ein Offizier die Tötungsmaschine seines alten Kommandanten verteidigt und selbst Opfer von deren Mechanismus wird, spielen bei Zacek in der Zukunft. Mit wenigen Dekorations- und Textilelementen beamt Peter Lehmann Philip Glass‘ Kammeroper aus dem Jahr 2000 eine ordentliche Zeitspanne weiter: Der reisende Besucher hat einen Aluschlafsack, der Offizier Metallsensoren an der Hand und am kahlen Schädel. Weniger relevant ist dieser Zeitsprung für den Besucher, der am Ende, sofern man dessen fragenden Blick richtig deutet, unfreiwillig in der Strafkolonie bleibt. Fragwürdig und befremdend undeutlich wird allerdings die Darstellung des Offiziers als Maschinenmensch. Dessen Händezittern signalisiert Abhängigkeit von den ihm einprogrammierten Funktionen. Das Grauen entsteht eigentlich aus der Figur des Offiziers, der sich in treuer Anhänglichkeit für den früheren Kommandanten an die Hinrichtungen macht und schließlich selbst zum Opfer der Tötungsmaschine wird. Als selbstbestimmter Mensch, nicht als seelenloses Werkzeug! Hier jedoch ist der Maschinenmensch, da fremdbestimmt, ohne ethische Verantwortung und moralisches Bewusstsein für sein Tun.

Deshalb fehlt dieser Produktion eine entscheidende Dimension von Kafkas Erzählung mit schwächender Auswirkung auf die Figur des Besuchers. Denn dieser hat weder in dem Offizier noch in dem nach draußen rennenden Gefangenen, den der Tänzer Artem Pshenychnykov mit abstrahierten Bewegungsfolgen zum gleichberechtigten dritten Mann macht, präzisierendes Kontaktfutter. Äußerst vage sind also die Reaktionen des Besuchers auf das, was er mit Cyberbrille in der Todeszelle erblickt. Hat er Angst vor der eigenen Verführbarkeit zum Blutrausch und der ihm demonstrierten Macht zum Töten? Die Regie vermag es nicht, den abstrakten Bühnenraum mit Deutlichkeit oder Symbolkraft zu füllen. Assoziationen an die Entmachtung der menschlichen Autonomie durch technische Errungenschaften im visuellen Rahmen werden im Spiel nicht plastisch.

Umso bedauerlicher ist das, weil Yury Ilinov die Partitur mit größtmöglicher dramatischer Dynamik auflädt und Glass‘ repetierende Tonfolgen aus der sachlichen Neutralität herausreißt. Ilinov beschleunigt, bremst und ermutigt die fünf Streicher zu Unterbrechungen und Zäsuren. Dadurch gibt er den beiden Sängern Florian Neubauer (Besucher) und Kai Wefer (Offizier) befeuernden musikdramatischen Treibstoff. Vor allem Neubauer deklamiert und singt mit einer vokalen Spannungsbreite wie für Berg oder Reimann. Das wurde Kai Wefer offenbar untersagt, dem selbst nicht ganz klar zu sein scheint, wen oder was er verkörpert: Homo Novus oder Android? Die Ausführungen des Offiziers über das Funktionieren der Maschine und seine irrwitzige Beschreibung der Zustände des Gefangenen bleiben gerade da zu beiläufig, wo sich Sachlichkeit zu Grauen und Ekel auswachsen müsste.

Zu vieles bleibt offen in dieser Realisierung: Der Gefangene kommuniziert weder durch Blicke noch durch Bewegungen mit seinem administrativ korrekten Peiniger. Es gibt keinen Unterschied zwischen Haftaufenthalt und Tötungsmaschine. Also scheitert diese Produktion auch deshalb, weil die Szene der affektiven musikalischen Gestaltung zu wenig entgegensetzt. Starker Applaus für die alles andere als einfache Kammeroper.


  • Wieder am 14.03., 02.04., 16.04., 23.05. – In der Strafkolonie, Philip Glass, Premiere, René Grüner, Angelika Zacek, Peter Lehmann, Artem Pshenychnykov, Yury Ilinov, Florian Neubauer, Kai Wefer, immer 19:30 (Gera, Bühne am Park) 

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