Nora Schmid kommt von ihrer ersten Intendanz an der Oper Graz in gleicher Funktion an die Sächsische Staatsoper Dresden zurück, an der sie bereits als Dramturgin wirkte. Ihr Eröffnungsstück: Arrigo Boitos „Mefistofele“. Die differenzierte Aneignung von Goethes Tragödie als Oper ist in der kurzen Fassung von 1875 ein riesiges Chorstück mit fragmenthaft angerissenen Szenen und prachtvollen Hauptpartien. Krzysztof Bączyk überzeugte als Mefistofele, Pavol Breslik (Faust) und Marjukka Tepponen (Margherita) waren ideal. Martina Gedeck kämpfte als Frau souverän gegen die Konzeptschwäche ihrer Rolle. Prachtvoll sangen die Chöre.
„Mefistofele“ an der Semperoper: Pavol Bresliks tolles Faust-Debüt
Die Regisseurin Eva-Maria Höckmayr visionierte mit viel Geisteshintergrund einen Faust ohne religiösen Dualismus, der deshalb auch nicht die Dimensionen „vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ durchmisst. Dramaturgisch war diese „Mefistofele“-Inszenierung dagegen auf Höhe der Genderdiskurse. Eine dazu erfundene Frau kommentiert – stellenweise sträflich in die Musik – mit einem aus „Faust“-Stationen zusammengeklaubten Potpourri von Goetheversen: aus der Zueignung, dem Prolog auf dem Theater, der Gretchen-Tragödie und der Szene mit dem Tod ihres Bruders bis zum Auftritt der vier grauen Frauen. Martina Gedeck war im taubenfarbenen Hosenanzug quasi das Korrektiv zu Mefistofeles Teufelswerk, allerdings ohne Gottes Beitrag. Denn Höckmayrs Faust wurde hier zum Zwilling Mefistofeles, versteht sich wie dieser als Schöpfer. Zu Beginn verzehrt Mefistofele einen Apfel. Am Ende reicht ihm die Frau einen. Man wusste allerdings nicht so recht wohin mit dieser Figur, die weder Lilith noch Engel oder Botschafterin für die Welt nach Goethe und Boitos spätem 19. Jahrhundert sein sollte. Schließlich ging es dann doch wieder um Adam und Eva, Gut und Böse, Erkenntnis und Ahnungslosigkeit. Höckmayr zeigt eine immer wieder in animalischen Sexus gleitende Zivilisation, an der Frauen als das gebärfähige Geschlecht besonders leiden und trotzdem munter mitmischen.
Es war ein lautstarker und energischer Premierenabend, bei dem Applaus und Klangmassen in Lautstärke-Rivalitäten gipfelten. Selten hört man von der Sächsischen Staatskapelle so ausdauernde Fortissimo-Orkane wie hier. Das Wunder dabei: Sogar beim stärksten Output klingt alles noch immer sonor und weithin transparent. Aber viele Wirkungen Boitos verschenkte der Dirigent Andrea Battistoni am Pult. Er huldigte lieber einem italienischen Traditionsstrang für diese Oper, in dem es weniger um den von Boito mit beträchtliche Anstrengung konzentrierten Gehalt der Vorlage als um satte Effekte geht.
Faust-Frackoperette
„Mefistofele“ wurde in der Semperoper zum freilich edlen Krawallstück aufgepoppt. Dabei gäbe es neben einem der größten Chorparts im Musiktheater genügend Gelegenheit zum Al-fresco-Schwelgen, wenn sich Faust mit Margherita erst passioniert, mit Elena dann hymnisch zusammenschließt. Unter der Leitung von Jan Hoffmann entwickeln die die Massen des Staatsopernchors Kraft, Wucht und Leuchten, was die Regie und Julia Röslers Kostüm-Mix aus Goethezeit, Gründerzeit und Gegenwart etwas abflacht. Auf Momme Hinrichs Rundbau mit Galerien und der sich ständig bewegenden Drehbühne gibt es um die Massenbewegungen rasant viel Episoden-Kleinkram aus Goethes komplizierten Faust-Texten, die hier allerdings nicht verständlich werden und oft unbemerkt bleiben.
Höckmayr wollte Margherita, Goethes „Gretchen“, unbedingt aufwerten und dadurch ihre Bedeutung für Faust verdeutlichen. Wenn Faust am Ende aus dem Teufelspakt erlöst wird oder sich befreit – so klar wird das nicht – ist eine seiner Geliebten ähnelnde Frauenfigur in seiner Nähe. Die klassische Walpurgisnacht und Fausts Begegnung mit Helena werden zur Flucht des denkenden Außenseiters Faust an einen Phantasieort mit guten Umgangsformen. Da wechselt Höckmayr aus dem von orgiastischer Lust angetriebenen Tanz beim Osterspaziergang und den Exzessen der ersten Walpurgisnacht ins Genre der Frackoperette.
Unangemessene Inszenierung und Instrumentalleistung bei (zu) perfektem Gesang
Faust und Mefistofele tragen beide beige Mäntel und Anzug, bis in der Apotheose Fausts Geist mit Engelsflügeln nach oben schweben will wie der Knabe Euphorion in Goethes Helena-Akt. Krzysztof Bączyk ist dem Umfang und gesanglichen Herausforderungen des stets verneinenden Geistes vollauf gewachsen. Sogar Mefistofeles expressive Rufe werden bei Bączyk zu perfektem Gesang. Das ist richtig, weil „Mefistofele“ keineswegs eine Vorstufe zum Verismo ist. Aber es fehlt auch die Abgründigkeit, die Porösität und Ambivalenz, das animalisch Gleißende und Wilde.
Neben ihm debütiert Pavol Breslik in einer der schönsten Tenor-Partien des italienischen Repertoires. In den ersten Wortwechseln mit Wagner bewegte Breslik sich mit einigen unnötig schluchzenden Tönen in die obere Mittellage. Ab der Gartenszene gelingt dem slowakischen Paradetenor eine perfekte Leistung. Mühelos überstrahlt die sicher klingende und geführte Stimme alle Orchestermassen ohne Flucht ins Fortissimo. Mit der schlichtweg wunderbaren Magherita von Marjukka Tepponen liefert er einen bewegenden Abschied von der Liebe.
Die Elena ist für die junge Clara Nadeshdin eine der ersten größeren Herausforderung im italienischen Fach. Von Tepponen unterscheidet sich Nadeshdin mit einem farbigen, gesunden Vibrato und sehr differenzierter Tongebung. Tepponen bewegt dagegen mit einer ausdrucksvoll geradlinigen und dabei zutiefst emotionalen Gestaltung der Margherita. Nicole Chirkas Marta ragte aus den solide besetzten Nebenpartien heraus: Omar Mancini (Wagner), Dominika Škrabalová (Pantalis) und Jongwoo Hong (Nereo). Es wäre ein großer Abend geworden, hätte Andrea Battistoni die Sensibilitätsfunken des Solistenensembles und der Staatskapelle aufgegriffen. So ergab sich aber szenisch und musikalisch nur ansatzweise ein Goethe wie Boito angemessenes Faust-Theater.
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