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Diana Haller (Ariodante). Foto: Christoph Kalscheuer
Diana Haller (Ariodante). Foto: Christoph Kalscheuer
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Mit der Leichtigkeit der Regie – Händels „Ariodante“ an der Oper Stuttgart

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Einer nach dem anderen kommen sie zu Händels Ouvertüre an die Bühnenrampe. Sie tragen Jogginghose und Boxermantel. Wie bei einer Casting-Show hat sich jede und jeder eine individuelle Choreographie überlegt und inszeniert den kleinen Auftritt mit coolen Gesten. Ein Videowürfel präsentiert die Namen der Kandidaten. Am Ende stehen die Sieben in einer Reihe und lassen sich feiern. Erst zur Gavotte legen sie ihre Klamotten ab und ziehen sich um für ihre eigentliche Rolle. Georg Friedrich Händels „Ariodante“ beginnt an der Stuttgarter Staatsoper ungewöhnlich poppig.

Die Oper zeigt die Sängerinnen und Sänger als Kontrahenten. Es geht um die Show. Die Performance muss stimmen. Im Laufe des Abends wird die Bühne zur Zirkusarena und zum Boxring (Bühne und Kostüme: Nina von Mechow). Der Kampf zwischen dem intriganten Polinesso (Christophe Dumaux) und Lurcanio (Sebastian Kohlhepp) im dritten Akt wird als Wrestling-Battle inszeniert. Ringrichter Odoardo (Philipp Nicklaus) verkündet schon nach wenigen Augenblicken den Sieger, so dass Ariodante endlich seine Ginevra (Ana Durlovski) bekommt.

Jossi Wieler und Sergio Morabito geht es in ihrer Inszenierung aber nicht nur darum, das heutige Entertainment augenzwinkernd zu hinterfragen. Die beiden Regisseure nutzen die glänzende Oberfläche, um tiefer über die Bedeutung des Theaters für die Gesellschaft nachzudenken. In manchen Szenen fehlt es dem Abend zwar an Feintuning; gelegentlich kippt die Spielfreude in Aktionismus. Aber im Großen und Ganzen begeistert dieser mit viel Jubel und einigen Buhs für die Regie aufgenommenen „Ariodante“, weil er nie oberlehrerhaft daherkommt, kreativ bleibt bis zum Ende und vor allem auch musikalisch beglückt. Das Staatsorchester Stuttgart spiegelt unter der Leitung von Giuliano Carella die Leichtigkeit der Regie. Die Läufe der auf Barockbögen spielenden Streicher in den vielen Koloraturarien sind trotz ihrer Virtuosität zielgerichtet. Carella schärft die Extreme, macht Freude zur Ekstase und Trauer zu tief berührendem Schmerz. Dabei unterstützen die Beweglichkeit und starke rhythmische Akzentuierung des Orchesters das spielfreudige Ensemble auf Schritt und Tritt.

Händels im Jahr 1735 in London uraufgeführte Oper erzählt eine freizügige Episode aus „Orlando furioso“ (Der rasende Roland) des Renaissance-Dichters Ludovico Ariosto, die der Librettist Antonio Salvi zu Beginn des 18. Jahrhunderts entschärfte. Im Schlusschor von „Ariodante“ wird die „schöne Unschuld“ besungen. Der Kampf, der die Ehre der angeblich sexuell berührten Königstochter Ginevra wiederstellen soll, wird von Salvi nicht hinterfragt, während diese Tradition des sogenannten schottischen Gesetzes von Ariost kritisiert wurde. Am Ende jedes der drei Akte zitiert in Stuttgart der französische Countertenor Christophe Dumaux einige Sätze aus Jean-Jacques Rousseaus „Brief über das Schauspiel“ (1758), die es in sich haben. Das Theater sei gefährlich für eine Gesellschaft, weil es die Sinne verwirre und Geschlechterrollen hinterfrage. Die Frau gehöre nicht auf die Bühne, sondern trage die „friedliche Sorge für Familie und Haushalt“. Die Rolle der kühlen, berechnenden Spaßbremse spielt und singt Dumaux auch als Polinesso. Seine Koloraturen haben Schärfe und Durchschlagskraft. Auch in der Tiefe entfaltet er Dominanz. So lässt sich die in ihn verliebte Dalinda (mit Brillanz und leichter Höhe: Josefin Feiler) schnell von ihm instrumentalisieren und verkleidet sich als Ginevra, um deren Ruf durch ein beobachtetes Treffen mit Polinesso zu schädigen. Diana Haller zelebriert mit ihrem geschmeidigen, perfekt geführten Mezzosopran die ganze emotionale Breite des Titelhelden. Und wenn sie den ersten Teil der bekannten Arie „Scherza, infida“ (Freu dich, Untreue) als Gebrochene im Liegen singt, begleitet von einem berührenden Solofagott und zersplitterten, auf Stoffbahnen projizierten Erinnerungen (Video und Licht: Voxi Bärenklau), dann entstehen mitten in der lockeren Spielanordnung intensive Theatermomente.

Ana Durlovskis leicht gaumiger Koloraturenglanz als Ginevra trägt ebenfalls zur hohen sängerischen Qualität des Abends bei wie auch Sebastian Kohlhepps warmer, heller Tenor. Nur Matthew Brook als König fällt etwas ab. Am Ende kleidet sich das Ensemble in historische Kostüme. Die theaterkritischen Töne Rousseaus beantworten die Solisten wie zu Beginn mit kämpferischen Gesten. Und Christophe Dumaux steigt aus der Loge, um den ollen Rousseau hinter sich zu lassen und mit den Kollegen sich und das Theater zu feiern.

  • Weitere Vorstellungen: 12./15./25.3., 3./11./15./18./21.4. 2017, Karten unter www.oper-stuttgart.de und tel. unter 0711/202090.

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