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Musik, die sich lüstern ins Abseits treibt

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Dem Oboisten und Komponisten Heinz Holliger zum 60. Geburtstag
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Er ist einer der heute gar nicht so häufigen Doppeltbeschäftigten auf künstlerischem Gebiet. Ob das Oboenspiel – soeben ist wieder eine berückend schöne Einspielung von Dismas Zelenkas Triosonaten erschienen – oder das Komponieren den Schwerpunkt ausmachen, ist nicht zu sagen. Berührungsfelder dazwischen gibt es ohnehin. Das Spiel auch alter Werke reift an der schöpferischen Auseinandersetzung mit experimentellen Strukturen und Spieltechniken, das Komponieren wiederum zieht ganz direkt energetische Kraft aus den Erfahrungen mit dem Spiel. Bei wenigen nur herrscht ähnliches osmotisches Gleichgewicht, der Slowene Vinko Globokar fällt ein, vielleicht noch die Dirigenten Bruno Maderna oder Hans Zender. Heinz Holliger ist ein Musiker der Schwellenerfahrung. Wie weit kann man einen Oboenton treiben, wenn der Luftvorrat beinahe existentiell ausgeht? In welche Regionen dringt er dort vor, in welch obertönig schillernden Bereiche, bevor er endgültig erstirbt? Solche aus dem Spiel abgezogenen elementaren Erlebnisse dringen ein in den Blick auf die Welt, in ihre künstlerische Spiegelung. Hölderlins vergleichbar grenzerfahrene späte Scardanelli-Gedichte wurden zum Brennpunkt eines Hauptwerks, des zwischen 1975 und 1991 entstandenen „Scardanelli-Zyklus“, der seinerseits in diverse Untergruppen zerfällt. Es ist Musik, die sich fast lüstern immer wieder ins Abseits treibt, in Regionen, wo sie gerade noch oder schon gerade nicht mehr sein kann: Singen ohne Atem, in unermeßlichen Zonen der Tiefe, mit schütterem, heiser angekratztem Ton. Gefangenheit und der weite Blick – Hölderlins Situation im Tübinger Turm – gehen hier in eins. Überhaupt der Atem: immer kreiste Holligers Denken um diese lebensspendende, existenzielle Mitte unseres Daseins. Titel einiger Werke (Pneuma, Atembogen, (T)air(e) etc.) berichten davon, das „Schneewittchen“, sein letztes Musiktheaterwerk, fällt am erstickenden Apfel in den Todesschlaf. Als Elexier des Seins ist er immer bei Holliger zugegen. „Mit dem Perpetuieren des Lebensatems möchte der sich nach Gottes Abbild geschaffen wähnende Mensch der Zeitlichkeit entgehen. Und doch gelingt es ihm nur, mit den ihm von Gott gegebenen Atemzügen die Lebenszeit auszumessen.“ Das äußerte er einmal in einem Aufsatz von 1994. Und er ergänzte, daß im rechten Atmen alle Artikulation des Musikers begründet läge, all das, was das erfüllte Musizieren vom Mechanischen unterscheidet. Und dort sind wir wieder beim Leben, das es für Holliger nur als sensibel erfahrenes gibt. Er läßt die Dinge nicht ihren schlechten, in Verstumpfung führenden Gang laufen, sondern greift still nachdrücklich ein, mit feinem Ohr, im Grunde mit allen Sinnen. Daß unser Dasein mit Sinn erfüllt werde. Am 21. Mai 1999 wurde Heinz Holliger 60 Jahre alt.

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