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Musik im Dickicht der Städte

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Das Kurt Weill Fest Dessau schärft sein Profil mit aktuellen Interpretationen
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Die großen Jubelfeiern zum 100. Geburtstag und 50. Todestag bemühten sich um ein umfassendes Bild Kurt Weills, weg vom nur durch die Zusammenarbeit mit Bert Brecht definierten „Schrägstrich-Komponisten“, konzentriert auf die Erfassung der jeweiligen Eigenarten in der „deutschen“, „französischen“ und „amerikanischen“ Phase.

Die großen Jubelfeiern zum 100. Geburtstag und 50. Todestag bemühten sich um ein umfassendes Bild Kurt Weills, weg vom nur durch die Zusammenarbeit mit Bert Brecht definierten „Schrägstrich-Komponisten“, konzentriert auf die Erfassung der jeweiligen Eigenarten in der „deutschen“, „französischen“ und „amerikanischen“ Phase.Inzwischen ist in Dessau wieder der Alltag eingekehrt, das Festival auf seine ursprüngliche Dauer von zehn Tagen zurückgeschrumpft, auch der Etat wieder bei der alten bescheidenen Größenordnung angelangt. Doch vom einmal erreichten Niveau hat man sich nicht mehr zurückdrängen lassen. Im Gegenteil, durch die Reduktion erscheint das gesamte Profil geschärft, durch bestimmte Schwerpunkte klarer akzentuiert. Die sollen jetzt vor allem beim unbekannten amerikanischen Weill liegen, den anspruchsvollen Musicals bis hin zur Broadway-Oper „Street Scene“, andererseits auch auf neuen Lesarten des fast schon bis zum Überdruss Bekannten. Ungeahnte Freiheiten wurden dabei möglich, entgegen den sonstigen strengen Auflagen der Weill-Foundation for music, bis hin zu Eigenproduktionen. Beim Geburtstagsspektakel im Dessauer Bahnhof, zu dem die Deutsche Bahn den Sekt ausschenkte, erfuhren die Songs aus „Dreigroschenoper“ und „Mahagonny“ höchst eigenwillige Umformungen durch die Performerin Laura Kibel: Ihr „Theater der Füße“ lässt alle möglichen Körperteile, mit Brillen und Perücken kostümierte Kniescheiben etwa, dazu Hand- und Stabpuppen, als Seeräuberjenny oder Mackie Messer auftreten; der Haifisch hat gewaltige Zähne; ein riesiges Krokodil singt Zigarren qualmend und Whiskey trinkend den „Alabama“-Song, die Soldaten fallen krachend von den Kanonen – skurrile Poesie, die ins Schwarze dieses Humors trifft. Dominique Horwitz nimmt seine „Dreigroschen“-Hits „ernster“; im neuesten Arrangement von Jan-Christof Scheibe entfaltet die seit 1993 erfolgreiche Produktion Punk-Aggressivität, welche eindimensional wirkt und trotzdem manchmal überraschende atmosphärische Momente hervorbringt. Bei Stefanie Wüsts reich nuanciertem Vortrag der frühen Lieder allerdings, die den Weg vom Koloraturgesang zum Song finden (während der Präsentation der neu herausgegebenen, äußerst aufschlussreichen „Briefe an die Familie“), zeigte sich einmal mehr die Überzeugungskraft der Originalfassungen.

Weill wurde nicht müde, für ein aktuelles und realistisches Musiktheater einzutreten; „das Musikbedürfnis breiterer Bevölkerungsschichten zu befriedigen, ohne ... künstlerische Substanz aufzugeben“, war sein wichtigstes Anliegen. Die Rockoper „Rote Socken?“, von Bodo Kommnick für die Anhaltische Musiktheaterwerkstatt für Kinder und Jugendliche geschaffen, kann diesen Kunstanspruch gewiss nicht erheben. Die Geschichte von „Wendelin“, der sich weder im „real existierenden Sozialismus“ noch im „Goldenen Westen“ zu Hause fühlt, ist zur Freude des Publikums von hohem Wiedererkennungswert und setzt zur Charakterisierung einen Mix des täglich Gehörten – Rock Pop, Techno – ein. Das ist nicht neu, doch mit Herz und Verstand gemacht, bewahrt auch bei gelegentlicher Sentimentalität einen Funken Distanz und gibt jungen Talenten reichlich Gelegenheit zu heißem Gesang und Tanz, wie wohl der Hauptwert des ganzen Unternehmens in der kreativen Verarbeitung der eigenen Realität zu sehen wäre, unermesslich wichtig angesichts unserer verdummenden Unterhaltungskultur. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Aufführung der problematischen Suite „Street Scenes“ zu akzeptieren – die Fassung der Foundation-Präsidenten Lys Symonette und Kim Kowalke unterstreicht einen gewissen „Puccini-Touch“ des immerhin 1946 entstandenen Werkes, dem selbst die flüssig-transparente Wiedergabe durch James Holmes nicht ganz abhelfen konnte. Aber die „kleinen Leute“, die hier endlich einmal Thema ohne den sonst üblichen „Soap“-Nachgeschmack sind, haben wohl andere Vorstellungen von Glück und auch von Ästhetik als überheblich nörgelnde Journalisten. Verlogen ist Weill jedenfalls nie, wenn auch „Street Scenes“ durch Distanzlosigkeit – welche die amerikanischen Sänger noch mit Vorliebe pathetisch verstärkten – als Kunstwerk fragwürdig bleibt. Vielleicht aber auch nur ein „Kulturschock“. Wie man den „amerikanischen Weill“ für unseren Geschmack aufbereiten kann, führte der von Stanley Walden geleitete Studiengang Musical der Berliner Hochschule der Künste mit „Love Life“ einfach hinreißend vor. Mit ein paar beherzten Strichen und Umstellungen versetzt Rüdiger Behring die Handlung – Wirren eines Ehealltags – in die virtuelle Welt einer Gameshow, die hochmotivierten Darsteller – herausragend Antje Rietz und Detlef Leistenschneider – absolvieren die „musikalische Paartherapie“ unter der Regie von Peter Kock mit der wissenden Ironie von heute, ohne zu diskriminieren.

Ohne das eigentliche Highlight des Dessauer Weill-Festes wäre das alles trotzdem etwas unbefriedigend geblieben, eben Unterhaltungskunst auf sehr hohem Niveau. Den „Sieben Todsünden“, dieser etwas verunglückten Zwittergeburt aus Songspiel und Ballett aus dem ersten Exiljahr in Paris 1933, mit einer männlichen Doppelbesetzung zu Leibe rücken zu wollen, ist schon eine etwas ausgefallene Idee. Ausgefallener ist nur noch, dass sie funktioniert. In Dietmar Seyferts Choreografie und Regie wird die Kernaussage des Stückes, die gewöhnliche Schizophrenie unseres Alltags als Aufspaltung von Persönlichkeiten in eine „vernünftige“ und eine „gefühlvolle“ Seite, endlich einmal deutlich. Sopranist Jörg Waschinski betont mit schneidendem Timbre und unbewegter Ausstrahlung die Härte der „praktischen“ „Anna I“, kontrastiert dies mit melancholisch-weichen, quasi kommentierenden „Passionstönen“. Jürgen Bruns als Leiter der „Kammersymphonie Berlin“ unterstreicht das mit angemessen extremen, die Musik beim Wort nehmenden Tempi. Gregor Seyfert wiederum, als zur Prostitution gezwungene „Anna II“, tanzt um sein Leben, legt Verletzlichkeit und atemlose Verausgabung in jede Bewegung. Dass diese männliche Besetzung niemals fragwürdig oder gar peinlich wird, ist vor allem dem sachlichen, über Geschlechterklischees stehenden Ernst der Interpretation zu verdanken; diese Art von „Verfremdung“ lenkt erst die Aufmerksamkeit auf den Inhalt, wo weibliche „Stars“ sich mit der Verpflichtung zum „Schön-Sein“ eher im Weg stehen.

Eine Aktualisierung findet da statt, die sich in einer getanzten, von Friedrich Schenker musikalisierten Version von Brechts „Lesebuch für Städtebewohner“ fortsetzt: in „Kampfhandlungen“ der jungen Schauspieler Julia Jentsch, Victor Calero und Boris Wagner umgesetzte Texte, die mit illusionsloser Schärfe nicht minder genau unsere Wirklichkeit beschreiben als die von 1930.

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