Auf dem Lauf vom Pariser Théâtre du Chatelet nach Caen und Luxembourg gelangte Jeanne Desoubeaux' weniger märchenhaft als straff verharmlosende Inszenierung von Händels Opera Seria „Orlando“ HWV 31 auch an die Opéra National de Nancy-Lorraine. Ab kurz vor der Pause belebte Applaus eine homogene Leistung, welche den abenteuerlich-anarchischen Stoff in ein zu niedliches Theater für die ganze Familie verschmälerte. Das sehr weiche und dabei transparent staffelnde Dirigat des Alte-Musik-Spezialisten Christophe Rousset mit dem Orchestre de l’Opéra national de Nancy-Lorraine konnte unter diesen Umständen keine spannungsvolle Reibung zum Bühnengeschehen setzen.

Jeanne Desoubeaux inszeniert Händels Orlando in Nancy.
Musikalische Noblesse zum Kinderstück: Händels „Orlando“ in Nancy
Ludovico Ariosts Epos „Orlando furioso“ begeisterte das Lesepublikum, Kunstschaffende und Intellektuelle vom Humanismus bis zur Weimarer Klassik. Dessen Titelfigur, der aus Liebe den Verstand verlierende Palatin Orlando, war im Mittelalter ein Vorbildheld für ganz Europa. Georg Friedrich Händel konnte es sich zur Entstehungszeit um die Uraufführung am 27. Januar 1733 im Londoner Haymarket-Theater überdies erlauben, Opern mit kreativer Freiheit statt nach strengen Regeln zu entwickeln. All das war der überaus achtsam und die Schärfen des Stoffes durchweg kindgerecht abfedernden Produktion kaum anzumerken.
Man ist wieder einmal im Museum. Noch bei hellem Saal fordert ein Lehrer von einer lautstark auf die Bühne brechenden Schulklasse Ruhe und Konzentration. Eine kleine Gruppe der ca. 8- bis 10-Jährigen lässt sich nach Betriebsende heimlich einschließen und erlebt, wie der Heros Orlando mit den anderen Figuren zu nächtlichem Traumleben erwacht. Neben ihren Liebeshändeln haben Händels Opernfiguren sogar Zeit, mit den Kindern zu spielen. Die sich physisch ähnelnden Sängerinnen der ritterlichen Rivalen Orlando und Medoro holen als Mütter ihre Sprösslinge im Finale ziemlich sorgenfrei über deren nächtliches Fernbleiben ab.
Weder auf der 'wirklichen' noch auf der 'phantastischen' Ebene konnte sich die Regisseurin Jeanne Desoubeaux zur etwas schärferen, strengeren oder gar fackelnd emotionalen Sicht auf den Stoff durchringen: Da gibt die Chinesin Angelica dem ihr ganz toll aus der Patsche helfenden Orlando den Laufpass und bevorzugt den Muslim Medoro. Der Zauberer Zoroastro, Angelicas Vater, wirkt mehr durch die ihn für die gehobene Museumslaufbahn empfehlende als magische Ausstrahlung, Olivier Gourdy singt die Partie mit schlanker Eleganz.
Inspirationen für die Szenen, wenn die Ritter mitsamt Umfeld im Museumsraum von Cécile Trémolières lebendig werden und mehrfach die Geschlechter wechseln, holte sich Desoubeaux bei Virginia Woolfs genderfluidem Romanheld „Orlando“. Die Kostüme von Alex Costantino spiegeln, was Eltern solider Wohnquartiere für gut halten. Die in der barocken Stimmdramaturgie omnipräsente Chaoskick wurde demzufolge nicht nachvollziehbar. Die Stimmen von Noa Beinart als für den reifen Starkastraten Senesino komponierter Orlando und Rose Naggar-Tremblay in der Frauenalt-Partie des Medoro ähnelten sich. Für die mit farblich ausgewogenen Mezzofarben gestaltende Noa Beinart war es nach ihrer Titelpartie in Vivaldis „Griselda“ mit Concerto Copenhagen dieses Jahr bereits die zweite Produktion mit sich in fiktive literarische Schauplätzen auflösenden Museumsräumen. Ihr Orlando ist auch in der zukunftsweisenden Wahnsinnsszene mit mehreren Wechseln zwischen Rezitativen und Arien ein eher melancholischer als cholerischer Held, der immer wieder zwischen den Geschlechtern wechselt. Auch Rose Naggar-Tremblay konnte in dieser Slim-Version eines die Dimensionen von Gewissheit, Wähnen und Wahn durchfurchenden Stoffes nicht die Partie des Medoro ausschöpfen. Melissa Petit, bevorzugte Sängerin an der Seite von Cecilia Bartoli, zeigte Angelica als noble Adelige ohne die Spannungsfelder der Figur. Händels Kontrastdramatik füllte in diesem Kontext nur Michèle Bréant als Dorinda. Mit leichtem Sopran und leuchtender Wärme wuchs Bréant über die trotz des hoch engagierten Kinderensembles beliebige Szenerie hinaus und gab einen mitreißenden Eindruck von dem, was dieser Abend hätte werden können.
Dabei waren die Voraussetzungen glänzend. Das Orchestre de l’Opéra national de Nancy-Lorraine zeigte in den letzten Jahren von Wagner bis Dukas einen weichen und autonomen Eigenklang. Dazu hat es mit modernen Instrumenten durch Produktionen wie Glucks „Iphigénie en Tauride“ oder Marc-Antoine Charpentiers „David et Jonathas“ ernstzunehmende Kompetenzen in Alter Musik. Christophe Rousset und sein Assistent Korneel Bernolet erarbeiteten eine konzentrierte, weniger auf Kontraste als weich schillernde Farben setzende Interpretation. Das hätte noch höheres Format haben können, wenn die Regie sich mehr auf Roussets musikdramatisches Verschmelzen von Arien und Rezitativen eingelassen und größere Spannungsfunken daraus generiert hätte. So blieb es diesmal bei einem schönen Fluss, bei dem das tatsächlich bestehende Potenzial der Besetzung zu wenig genutzt wurde. - Nach Serien von Puccinis „La bohème“ und Poulencs „Gespräche der Karmelitinnen“ folgt in Nancy ab 29. März 2026 Marko Nikodijevićs „I Didn’t Know Where To Put All My Tears“ in Kombination mit Benjamin Brittens „Curlew River“.
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