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Im Westdeutschen Rundfunk, aber auch in der musikalischen Öffentlichkeit ist Unruhe entstanden. Eine Strukturreform steht im kommenden Frühjahr ins Haus. Was bedeutet diese für die Neue Musik, die in dieser Rundfunkanstalt immer einen besonderen Rang eingenommen hat? Damit beschäftigt sich unser Leitartikel auf Seite 1. Wie eine sinnvolle, produktive Musikarbeit in einem Funkhaus aussehen kann und organisiert sein sollte, dafür hat die Neue-Musik-Redaktion des Westdeutschen Rundfunk speziell in der Aera Becker-Carsten das Vorbild gegeben. Es ist ja nicht damit getan, daß man irgendwelche Programme zusammenstellt oder an irgendeinen Komponisten einen Auftrag vergibt. Auch die Arbeit für die Neue Musik benötigt eine Dramaturgie, die geprägt ist von hohem Wissen, Qualitätsbewußtsein und Perspektivvielfalt, besonders aber auch von einer zielgerichteten Kontinuität, in der sich jeder einzelne Komponist geborgen und gefördert fühlen kann.
Dieter Schnebel zum Beispiel hat von einer solchen Interaktion zwischen kreativem Künstler und einer innovativ denkenden Redaktion, wie es die für die Neue Musik zuständige im WDR ist (war), entscheidend profitiert. Schnebels „Raumklang X“, das Klavierkonzert „Hymnus“ (als Stück aus einem Satz der „Sinfonie X“abgeleitet), vor allem die große Schnebel-Werkstatt waren in den vergangenen Jahren markante Wegzeichen einer von der Kunst her gedachten, als Einheit begriffenen Zusammenarbeit. Der neueste Schnebel-Abend in der „Musik-der-Zeit“-Reihe, eingeleitet mit zwei „Raumklang“-Kompositionen von Iannis Xenakis, setzte diese „Interaktion“ mit der Uraufführung von „Ekstasis“ nachdrücklich fort. Schnebels „Ekstasis“ für Sopransolo, Schlagzeug, Chor und Orchester, wurde 1996/97 geschrieben und steht in der Folge der „Tradition“-Kompositionen, zu denen auch die „Missa“ und die in Donaueschingen uraufgeführte „Sinfonie X“ gehören.
Schnebels etwa seit 1975 betriebene „Traditions-Erkundungen“ sind keine nostalgischen Retrospektiven, dienen vielmehr einer Art tiefenpsychologischer Forschung. Das alte, ein wenig lehrhafte Weistum vom Erbe der Väter, das man erwerben müsse, um es zu besitzen, steckt in Schnebels „Traditions“-Grabungen ebenso wie das theologisch zu verstehende Motiv vom „Empfangen und Weitergeben“. Wenn Schnebel sich jetzt musikalisch-kompositorisch mit der „Ekstase“ auseinandersetzt, dann darf man den Begriff nicht allein religiös interpretieren, was beim Theologen Schnebel naheläge, sondern Ekstase wird auch als psychologisches Phänomen verstanden, auch als allgemeines Aus-sich-Heraustreten, als Hineintauchen in rauschhafte Zustände der Verzückung und Entrückung. Die Titel einiger der insgesamt sechzehn Sätze signalisieren die begriffliche Spannweite der Schnebelschen „Ekstase“: Beschwörung, Trance, Trunken-Dionysus, Angst-(lust) heißen sie. Schnebel kontrapunktiert diese Haupt-Sätze durch eingeschobene Neben-Sätze, sogenannte „Metropolis“-Sätze, die durch ihren „weltlichen“ Gestus die religiös determinierten Teile sechsmal unterbrechen. Schnebel legt auf die Kontrastierungen durch die „Metropolis“-Teile entschiedenen Wert. Das Werk, als work in progress fortschreibbar, kann auch, wie bei der Uraufführung in der Kölner Philharmonie, teilweise gespielt werden, wenn nur die „Metropolis“-Struktur gewahrt bleibt.
Schnebels „Ekstase“ könnte man als einen Versuch werten, verschüttete Emotionalität wieder freizusetzen, Erstarrungen in einer total verwalteten Welt zu lösen. Insofern enthält das Werk in dieser gesellschaftlichen Perspektive zugleich politisch-kritische Implikationen. Darüber hinaus fällt besonders ein ausgeprägter theatralischer Gestus auf, allein schon in der Collagierung verschiedenster musikalischer Ausdrucksmittel, von polyphonen Verschlingungen bis zu Geräuschsequenzen à la musique concrète, von magisch-rituellen Rhythmisierungen bis zum harten Technosound in „Metropolis VI“ sowie den verschiedenen, aus der Sprache abgeleiteten Lautkompositionen. Gesprochen erscheinen dabei auch konkrete Texte, unter anderem aus Ovids „Metamorphosen“, Brechts „An die Nachgeborenen“ und Brodkys „Geschichte meines Todes“. Aus dem ständigen Gegen-und Miteinander kontrastierender Gestaltmittel und Inhalte von Musik und Text ergibt sich eine enorme Bewegungsenergie, die von innen nach außen drängt, oft mit explosiver Gewalt: Musik als dramatischer Ausdruck. Schnebel denkt dabei an ein „imaginäres Theater“ für Musik, das sich aus unterschiedlichsten Klangquellen definiert, das unablässig in die dramatische Gebärde wechselt - eine reale theatralische Inszenierung wäre bei entsprechenden Phantasiepotentialen vorstellbar.
Schnebels Werk, dessen programmierte Disparatheit des Materials durch einen entschiedenen, sehr individuellen kompositorischen Zugriff zur expressiven Einheit gebracht wird, erfährt zusätzlich an Geschlossenheit durch das Prinzip einer „Raum-Klang“-Ästhetik, für deren Realisierung sich die Kölner Philharmonie mit ihrer Rund-Struktur in Kegelform einmal mehr als idealer Aufführungsort erwies. Die Assoziation „Marathonläufer“ für den in der Mitte des Auditoriums postierten Schlagzeuger (grandios Rainer Römer) konnte man sogar wörtlich nehmen: Der Spieler trommelte zugleich mit seinen auf der Stelle tretenden Füssen.
Auf die Historie des Raum-Klang-Komponierens verwiesen im ersten Teil des Konzerts Iannis Xenakis’ „Terretektorh“ für großes Orchester und „Eonta“ für Klavier und fünf Bläser. Vielleicht erscheinen einem die einst intendierten Raum-Klang-Effekte inzwischen leicht verblaßt, doch in der Substanz entfaltet Xenakis’ Musik eine unverändert überwältigende Kraft. In Schnebels „Ekstasis“ findet sich viel von dieser Energie wieder. Die Perspektiven das Programms gelangten auch durch die qualitätvollen Wiedergaben unter der Leitung von Peter Eötvös zu einem hohen Grad von Einsehbarkeit. Das Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, das in diesen Tagen das Jubiläum seines fünfzigjährigen Bestehens beging, agiert unter Eötvös besonders konzentriert. Warum hat man eigentlich nicht Peter Eötvös zum neuen Chefdirigenten erwählt? Semjon Bychkov hätte daneben ja ruhig sein russisches Repertoire als Gast absolvieren können. So hat heutzutage eben vieles auch im Orchesterwesen seine Unsinnigkeiten.
Gerhard Rohde