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Anne Preuss als Myrtocle in „Die toten Augen“ am Theater Gera. Foto: © Ronny Ristock

Anne Preuss als Myrtocle in „Die toten Augen“ am Theater Gera. Foto: © Ronny Ristock

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Musiktheater-Sternstunde auf Messers Schneide: d’Alberts „Die toten Augen“ in Gera

Vorspann / Teaser

Die Premiere der dekadent-symbolistischen Sandalenoper „Die toten Augen“ des Starpianisten Eugen d‘Alberts wurde im Theaterhaus Gera ein voller Erfolg mit fast einer Viertelstunde Schlussapplaus. Im Königlichen Opernhaus Dresden erlebte das 95-Minuten-Opus 1916 seine Uraufführung, verschwand erst hinter d‘Alberts bekanntester Oper „Tiefland“ und schließlich ganz. Lange Zeit war das erotische Mysterienstück nur in Tondokumenten mit Marianne Schech und Dagmar Schellenberger in der packenden Hauptpartie der Myrtocle verfügbar. In Gera triumphierten jetzt Anne Preuß mit sängerischer Grandezza und das ganze Haus mit einer Prachtleistung. 

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Kennern wird die fast identische Besetzungsverteilung mit d‘Alberts bekanntester Oper „Tiefland“ auffallen, anderen missfällt vielleicht die Nähe des Sujets zu den christlich-esoterischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts. Aber das Orchester gleißt, rauscht und beglückt zwischen den Polen des Ariosos vom „guten Hirten“ der Büßerin Maria von Magdala und dem dionysisch flirrenden Lied von „Amor und Psyche“: Die blinde Korintherin Myrtocle lebt mit ihrem gehandicapten Mann Arcesius, einem Gesandten Roms, in Jerusalem. Am Tag seines Einzugs macht sie der Messias sehend. Als Myrtocle den schneidigen und sie liebenden Galba darauf für ihren Mann hält, eskaliert die Situation. Arcesius bringt Galba um. Myrtocle will nichts gesehen haben. Um ihr Eheidyll zu bewahren, verzichtet sie in freier Entscheidung auf das Augenlicht und erblindet erneut durch einen langen Blick in die Sonnenglut. Davor verflucht sie den Heiland, wie dieser es voraussah. In der Rahmenhandlung sucht und findet der gute Hirt sein verlorenes Schäflein. Kleine Brücke zur Regionalgeschichte: Helena Forti, die erste Myrtocle, war die Ehefrau von Bruno Walter Iltz, Dramaturg und Generalintendant des Fürstlich Reußischen Theaters Gera.

Mit dem Kabarettisten Marc Henry ersann Hanns Heinz Ewers, der im Widerstreit zwischen Humanismus und Faschismus zerriebene Weltreisende und Erfolgsautor für Bühne, Film und Buch, ein bemerkenswert vielschichtiges und perfekt konstruiertes Textbuch. Der Ausstatter Markus Meyer setzte auf die kompositorische Opulenz und die pathetisch wie feinnervig ausholende Dichtung ein großbürgerliches Interieur mit Brokattapete, üppiger Tafel und psychedelischer Farbexplosion für Myrtocles Augenwunder. Am Ende leuchtet dann nur noch ein Menschenschädel aus dem Dunkel. Die Hirten tragen mit Lametta bestäubte Steigeranzüge. Maria von Magdala erscheint – in geradliniger Innigkeit gesungen von Franziska Weber – mit Buch und blauem Mantel wie im Mysterienspiel. Myrtocle ist schon während des Vorspiels auf der Bühne, hier wird die Sonnenbrille endlich einmal zum sinnfälligen Requisit. Anstelle des Schäfchens liegt am Ende ein gestürzter engelgleicher Amor mit freiem Oberkörper und gefederten Flügeln auf der Bahre (Ballett-Trainingsleiter Davit Vardanyan). Er steht mit schillernder Vieldeutigkeit für die emotionalen Höhenflüge und erotischen Phantasien der Figuren.

„Opfere dein eigenes Glück für das Glück der anderen“ lautet die grausame Forderung, der Myrtocle mit ihrer zweiten Erblindung gehorcht: Generalintendant Kay Kuntze holt in seiner Regie nicht zu einem aufgesexten Prankenschlag aus, aber er ist eindeutig. Zwischen den Hauptfiguren entwickelt er ein subtiles Kammerspiel und setzt für den religiös-symbolischen Überbau verdeutlichende Kunstgriffe. Ein bisschen Oberammergau spielt auch hinein, aber Kuntze ironisiert zum Glück allenfalls minimal. Das Stück spiegelt im Theaterhaus Gera überdeutlich die Grausamkeit christlicher Dogmatik, was den Rausch von d‘Alberts blendender Musik am Ende zu asketischer Asche zerstäubt. Noch ein Metaebenen-Kick: „Salome“ von Wilde und Strauss hat eine etwas krude Moral, d’Alberts und Ewers’ am gleichen Ort während des Ersten Weltkriegs elf Jahre später uraufgeführtes Musikdrama endet nach intensivster Klangmagie fahl und einschüchternd.

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Franziska Weber als Maria Magdalena in „Die toten Augen“ am Theater Gera. Foto: © Ronny Ristock

Franziska Weber als Maria Magdalena in „Die toten Augen“ am Theater Gera. Foto: © Ronny Ristock

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In Gera kann man solche Stücke sehr gut bis exzeptionell besetzen. Der von Alexandros Diamantis einstudierte Chor ist aufgesplittert. In d’Alberts Oper hat jede Stimme ihr kleines Gesangs- oder Dialogsolo. Den bizarren und auf Wagners Mime aufbauenden Charaktertenor-Partien dieser Jahre fügt d’Albert den orientalischen Quacksalber Ktesiphar hinzu, als der Jan Kristof Schliep beherzt und vital einsprang. Das Quartett der hebräischen Frauen (Caroline Nkwe, Jana Lea Hess, Annick Vettraino, Ina Westphal) behauptet sich substanzreich neben den größeren Partien. Die inzwischen im Festengagement singende Julia Gromball bestätigt als Myrtocles Vertraute Arsinoe die sinnvolle Aufbauarbeit des Thüringer Opernstudios. Assistiert vom markanten Kai Wefer als Schnitter gibt Raoni Hybner de Barros einen bemerkenswert charakter- und melosstarkenen Hirten. Isaac Lees fast heldentenoraler Höhenstrahl begegnet der von Amors Liebespfeilen versehrten Figur des Galba mit gewinnender Energie. Alejandro Lárraga Schleske, der sich mit Intelligenz und energetischer Vokalpräsenz immer mehr ins schwere Bariton-Fach vorarbeitet, ist ein hochemotionaler Arcesius auf großer Linie.

Sie alle überragt, das muss in dieser Oper so sein, Anne Preuß als Myrtocle. Das ostthüringische Ensemblemitglied ist im Zenit seiner großen Möglichkeiten. Da stimmt einfach alles. Der hinter distinguierter Fassade brodelnde Sinnlichkeits- und Seelensturm artikuliert sich in der souverän gefassten Stimme mit klarer Höhe, heller Mittellage und fokussierter Tiefe. Ihre Myrtocle ist Lava aus perfekter Fassade. GMD Ruben Gazarian dirigiert mit einer sängerfreundlichen Abstimmung und telepathischem Vertrauen in das nicht nur an diesem Premierenabend hochklassig aufspielende Philharmonische Orchester Altenburg Gera. Das beste, was man über diese Produktion sagen kann: Immer bewegt sich diese spirituelle und obsessive Musiktheater-Sternstunde auf Messers Schneide. Aber die fragile Balance bleibt gewahrt. Lange Ovationen.

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