eXoplanet #1, die ersten und vom Theater Magdeburg ausgerichteten Tage für neues Musiktheater Sachsen-Anhalt, stellen nicht die Eigenbeiträge mit Sarah Kirkland Sniders „Penelope“ und Gerald Barrys „Salome“ ins Zentrum, sondern starten vom 9. bis 11. Mai mit kontrastreichen Projektblüten in urbanem Räumem. Am ersten Tag gab es zum Motto „Hysterie in der Peripherie“ unter der Projektleitung von Marie Schultze die Uraufführung der Performance-Installation „Industrial Mechthild“ von Lisa Pottstock und Kris Kuldkepp und ein Gastspiel der Kosmischen Musical-Show „Klaus From Space“ mit dem sensationellen Avantgarde-Entertainment-Operntenor Timur.

eXoplanet: Industrial Mechthild - Tanya Strohal, Ensemble. © NilzBöhme
Musiktheater in urbaner Wüste und Glashaus: Das Festival eXoplanet #1 in Magdeburg
So könnte eine Hölle auf Erden aussehen: Das riesige Areal des alten SKET-Industrieparks liegt an diesem noch leicht kühlen Tag unter gleißender Magdeburger Maiensonne. Aber es staubt vor den Graffiti auf Mauerresten. Im ferneren Hintergrund des bizarren Panoramas sieht man Plattenbauten, Baustellen, eine Pakethalle, einen neu wirkenden REWE und vor allem beklemmend viel Platz: Ein Unort, in dem Agora- und Klaustrophobie identisch sind: Das ehemalige DDR-Schwermaschinenbau-Kombinat Ernst Thälmann mit ehemals 30.000 Werktätigen, dessen pulsierendes Nachfolgeareal „im Herzen der Wirtschaftsregion Magdeburg“ liegt, wirkt wie der Schauplatz einer Dystopie nach dem Ende der Zivilisation. Baureste, Glasdach-Überbleibsel einer dereinst riesigen Werkhalle, Scherben und noch begehbare Bauruinen sind ganz viel Raum ohne Volk. Letzteres wirkt hier wie weggewischt, wenn nicht gar ausgelöscht. Ein idealer Tummelplatz also für offene Kulturprojekte mit Lust auf Assoziatives und Apokalypse.
Der erste Tag von eXoplanet #1 stellt interaktive Musiktheater-Konfektion in diesen Un-Raum und Virtuosentum in Elite-Atmosphäre gegenüber. Ersteres mit künstlerischer Belanglosigkeit, zweites mit dem phänomenalen Tenor Timur in absehbarer Setzung und gerade deshalb als Beweis, dass Kunst durch den Parameter des Könnens mindestens so viel gewinnt wie durch den des Wollens.
Es sei mit hohem Respekt vor dem Einsatz des Bürger:innenChors Magdeburg, des Aufbaus von eigens angefertigten Donnerblechen, der arbeitsintensive Crew von Technik und Sicherheitspersonal gesagt: Das von einer Wettbewerbsjury ausgewählte Duo Lisa Pottstock und Kris Kuldkepp konnte sein Versprechen einer „musiktheatralen Erzählung über die Dezentralisierung von Macht“ leider nicht einlösen, zeigte dafür unabsichtlich das Gegenteil. Die Bezüge zur mittelalterlichen Magdeburger Mystikerin Mechthild, von der Texte aus einem Radio und von den Lippen der Chorfrauen in die Gehörgänge des wandelnden Publikums drangen, hatten allenfalls die Intensität und Empathie einer Online-Recherche. Mit adretten Cargohosen, Mikros und weichen Blicken ähnelten die Spielerinnen androiden Marionetten an langer Leine eine soufflierenden Megadata. Musik, Gesänge und das Säuseln esoterischer Sinnangebote stärkten die lastende Atmosphäre von Verlorenheit und Isolation. Die vollbesetzte Publikumskapazität von maximal 50 Personen war begeistert mit der Solidarität einer eingeschworenen Gemeinschaft. In den vielen urbanen Lückenfeldern der Hauptstadt Sachsen-Anhalts wäre eine solche Bespielung durch das Theater Magdeburg im angedachten Zweijahreszyklus eine essenzielle Bereicherung. Denn nicht nur das riesige SKET-Areal im zentrumsnah gelegenen Stadtteil Buckau schreit nach Belebung, Verlebendigung und atmosphärischer Rückeroberung durch Theater und Spiel. Vor allem deshalb ist dem kleinen Festivalstart eine große Zukunft zu wünschen.

eXoplanet: Klaus From Space. Pipsqueak: Timur. Foto: © Nilz Böhme
Abends Szenenwechsel in die Gruson-Gewächshäuser, mit deren Bau der Magdeburger Großindustrielle Hermann Gruson seine botanischen Leidenschaften hegte und diesen ein Denkmal setzte. Dort sah es zum „eXoplanet #1“-Beitrag nach subjektiver Schätzung wie 130% Platzausnutzung aus. Denn nicht nur die Neue Musik hat ein großes Faible für den aus dem Allgäu stammenden und 1983 verstorbenen Popsänger Klaus Nomi, sondern auch urbane Hipster und Hedonismus-Nostalgiker:innen. Timurs „Klaus From Space“ entstand 2021 für die Neue Oper Freiburg, dem Wirkungsort von Julien Chavaz vor seiner Magdeburger Generalintendanz. Timur und sein Projektkompagnon Pipsqueak nähern sich der unnachahmlichen Ikone Klaus Nomi in den Arrangements von Arthur Conseil und Kristian Hoffman mit respektvoller Freiheit. Timur pfeffert Spitzentöne, Glissandi, Tonkaskaden und gespreizt-gegurrte Worte, als hätte ihn Nina Hagen zu ihrem besten Meisterschüler gekrönt. In die Hits des „Simple Man“, welche oft auf Klassisches wie Saint-Sa ëns‘ Dalila-Verführungsarie oder Purcells Frostmusik zurückgehen, stürzt sich Timur mit kantigen Bewegungen und einer morbiden wie äußerst vitalen Erotik. Das Finale ist Aufruf zur dionysischen Kurzparty unter exotischen Blättern und Blüten. Teilfazit also auch hier: Ein Musiktheater-Festival mit derartigem Appeal zur Ortsschau mit Tiefgang fehlte bisher in Magdeburg. Neben den Heimspielen der Musiktheater-Sparte folgen am Wochenende zwei Aufführungen der Wanderoper*ette „Tutti in Campagna“ mit dem freien Musiktheaterkollektiv tutti d*amore.
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