Giuseppe Verdis „Aida“ gehört zum kernigsten Kern-Repertoire des Opernbetriebs. Manches Sommerspektakel in vormals antiken Arenen oder anderen touristisch erschlossenen Steinbrüchen täte sich weit schwerer, wenn es dieses Werk von 1870/71 nicht gäbe. Auch die Salzburger Festspiele wollen an der großen musikalischen und ökonomischen Zugkraft der „Aida“ teilhaben. Sie machen daher der Arena di Verona und künstlerisch vergleichbar wertvollen Institutionen Konkurrenz. Intendant Hinterhäuser sorgte für maximale Attraktion im Großen Vorderhaus, indem er mit Riccardo Muti einen der renommiertesten Verdi-Dirigenten verpflichtete, dazu top-teures Sänger-Personal und mit Shirin Nashat eine in der interkulturellen FotografInnen- und -FilmerInnen-Szene absolut angesagte Regisseurin. Der Erfolg gibt ihm recht.
Unterstellen wir, dass es zuvorderst der „unsterblichen“ Musik gilt. In Maestro Muti hat sie einen ihrer schönsten Sachwalter der Gegenwart. Wie er zum aufbrandenden Begrüßungsapplaus, jede Sekunde seines Wegs durch das hochkarätige Orchester auskostend, seinem Arbeitsplatz sich nähert – dem „Pult“! – das allein schon ist eine Augenwiede. Wie er dann, gestützt auf die langjährige Erfahrung mit selbstgewisser Routine das filigran-kontrapunktisch anhebende Preludio mit den harmonischen Ausflügen nach Cis-Dur durchmisst, lässt die Herzen der zweieinhalbtausend HörerInnen hörbar höher schlagen. Geschmeidig, in lässiger Gespanntheit und stets auf der Hut vor möglichen Misshelligkeiten zwischen Graben und Bühne steuert Muti die Begleitung der mit Gold kaum aufzuwiegenden Gesangsstars, die sich vor die imposante neuägyptische Kulisse stellen, um mit kunstfertig rudernden Armen und gelegentlich gespreizten Fingern facettenreich schillernde Kleinodien der Vokalkunst zu kredenzen – der Oberpriester Dmitry Belosselskiy allerdings mit kleinen Ausbeulungen in der nicht allzu schweren Basspartie. Ein Bauwerk, das anmutet wie eine in den besten Jahren Anwar al-Sadats errichtete Mehrzweck-„Halle des Volks“.
Innerhalb der akzeptablen Toleranz bewegen sich auch die kleinen Tempoabweichungen der von Ricardo Muti diskret in Richtung Triumphmarsch-Kulmination getriebenen Aida-Trompeten. Im sterilen Gehäuse der Zuschauertribüne auf der Bühne treten die beiden Dreiergruppen rechts und links weit herunter, um den Luftweg zu den Kollegen im Graben zu verkürzen. Auch das verrät volle Professionalität. Das sich wuchtig aufladende Kriegsgeschrei, das der Komponist nach eigenem Bekunden alles andere als positiv konnotierte (sondern mit einem ihm verhassten Preußen-Geist), treibt der Maestro mit den Wiener Jubelphilharmonikern dergestalt zum Exzess, dass das überwiegend reife (und wohl zu guten Teilen aus der Nachkommenschaft der Preußen rekrutierte) Publikum aufspringt, als wolle es spontan in Belgien einmarschieren oder wenigstens die Kavallerie zum Sturm auf Liechtenstein anfeuern. Aber die Leute streben nur den Pissoirs und Sekttheken zu. Von Österreich geht, das ist beruhigend, keine militärische Aggression aus. Sie täte dies auch dann nicht, wenn Riccardo Muti noch ein wenig mehr „motivierte“ (aber dergleichen hätte wohl nicht einmal der ungleich jüngere und wild schwitzende Teodor Currentzis vermocht).
Vollbad in Tonwonnen
Jedenfalls tut die „Aida“-Ohrenspülung ihre volle Wirkung. Auch des weiteren, wenn die resolute Ekaterina Semenchuk als Pharaonentochter Amneris das Objekt der Begierde, Francesco Meli, bei der Vorbereitung zur Flucht ertappt und dessen – juristisch korrekte – Verurteilung als Verräter nicht zu verhindern weiß. Der schlanke Tenor Meli, der anfänglich weniger wie ein Heerführer, eher wie ein Hänfling wirkte, wächst stimmlich in die Rolle des siegreichen Feldherrn mit nicht ganz systemkonformen Wünschen – und zugleich in die des unsäglich naiven Liebhabers. Ein wenig versteht man, warum der vor lauter Liebe blinde (aber bedauerlicherweise nicht stumme) Radamès sich nicht von einer so hart-klar-starken Sopranistin wie der Semenchuk zur Brust nehmen lassen will, sondern eine Aida anhimmelt, die noch immer einzelne Töne etwas von unten ansteuert, als wisse sie noch nicht so recht, wie ihr werde, und finde sie erst nach einer kleinen Verzögerung zur richtigen Gewissheit. Très charmant. Ein Vollbad in Tonwonnen gewährt schließlich der Liebestod, der im Pianopianissimo aus d-Moll anhebt, über As-Dur und Des-Dur nach Ges-Dur hinabführt – und doch hinauf zum musikalischen Licht zu steigen scheint. Thomas Mann hat die brutale Beschönigung dieser Szene im „Zauberberg“ unbarmherzig beschrieben.
Die Verheißung des glückseligen Todes war am 12. August in Salzburg noch nicht zu ihrer Vollendung gelangt, der Vorhang erst halb unten, als das Auditorium des Großen Festspielhauses von der rückwärtigen Mittelloge aus in grelles Licht getaucht wurde. Das Fernsehen wollte rechtzeitig on air sein, wenn erwartungsgemäß der grenzenlose Jubel für die Stars anbricht. Eine besonders impertinente Sprech-Uschi begann schon ihr ModeratorInnen-Geplapper, bevor Aida und Radamès ihre letzten Atemzüge getan, Amenris ihr letztes „pace“ und der Chor im dreifachen Piano sein „immenso Fthà“ gehaucht hatte (die Szene, meinte die Regisseurin Shirin Nashat, „rührt mich jedes Mal zu Tränen“). Man mag den theatralen Eingriff des Fernsehens für einen Akt mangelnden Respekts vor dem anrührenden Sterben auf der Bühne oder dem kräftig zahlenden Live-Publikum halten. Aber auch da hat sich wohl die kluge Regie des Intendanten im Hintergrund durchgesetzt. Er weiß, dass angesichts der nun einmal unabweislichen Ökonomisierung auf die integrale Werkgestalt nicht mehr allzu viel Rücksicht genommen werden kann.
Besondere Erwartungen an die Regie
Shirin Nashat äußerte im Programmbuch die Hoffnung, dass ihr „Mangel an Vorwissen vielleicht eine neue Sicht ermöglicht“. Ganz aus dem Geist der medial verordneten und international siegreichen Niveauabsenkung geistiger Produkte und kultureller Großwerke warf sie verschiedene Fragen auf (es handelt sich freilich in erster Linie um Fragen an das Libretto von Antonio Ghislanzoni): „Wollte Verdi wirklich Kritik an seiner eigenen, europäischen Kultur üben? War er ein Rassist? Verklärte er den Orient?“ Die in Salzburg inszenierende Fotografin und Filmemacherin ließ diese „Diskussion“ allerdings des Weiteren „ungeachtet“ und verzichtete auf die Deutung der exotistischen Momente des Werks ebenso wie auf die der von Anfang an begleitenden Mythenbildung (wie in jedem halbwegs seriösen Opernführer zu lesen, wurde „Aida“ mitnichten zur Einweihung des Suez-Kanals bestellt, geschrieben oder aufgeführt). In der Kolonialgeschichte Italiens und insbesondere in der Kulturpolitik der Mussolini-Ära nimmt diese Oper allerdings eine ähnliche Funktion ein wie die „Meistersinger“ nördlich der Alpen in der NS-Zeit. Nicht einmal die von Nashat als Emigrantin wider Willen bekundete Empathie für die aus Äthiopien nach Ägypten verschleppte Sklavin wird in der neuen Salzburger Produktion evident. Aber vielleicht war dies ja gerade das „Konzept“, das die iranische Foto- und Film-Künstlerin zur Opernregisseurin avancieren ließ: dass alle mögliche kritische Masse nicht zu Gesicht kommt und ein Publikum, das im Opernhaus überwiegend von aller gesellschaftlicher Wirklichkeit verschont bleiben möchte, lieber eine sinnentstellte „Aida“ goutiert als eine politisch ernst genommene.
Seit Jahrzehnten proklamieren Dramaturgen, wenn ihnen partout nichts anderes einfällt, das Stichwort „Macht“ zur werbewirksamen Verklammerung von Programmen, die nach allen möglichen Kriterien zusammengeschustert wurden, nur nicht nach inhaltlich-ästhetisch-künstlerischen. Unterm übergroßen Mantel der wohlfeil plakatierten „Macht“ lassen sich wohl zwei Drittel aller Opern „in einen Kontext setzen“ – angefangen von jenen „Barock“-Opern, in denen die Liebe geschichtsenthobener Subjekte in antiken oder sonstigen feudalen Herrschaftszusammenhängen spielt, bis zu jenen des 20. und 21. Jahrhunderts, in denen explizit die eine oder andere Machtfrage gestellt wird. Shirin Neshats Opern-Debüt offenbarte die Hilflosigkeit eines sensiblen ästhetischen Geists vor den Sogwirkungen von Moden und die Machtlosigkeit des Festspiel-Spitzenbetriebs vor den Mächten der Ökonomie. Dabei wollte die wohlmeinende Exil-Künstlerin doch nur „menschliche Gefühle einfangen“. Besser freilich, wenn diese auf der Opernbühne an die frische Theaterluft gelangen und nicht gefangen bleiben.