Die fatalen Entscheidungen über die Zukunft der beiden Radiosinfonieorchester des Südwestrundfunks (SWR), über die auf den Seiten 1 und 3 dieser nmz-Ausgabe im Zusammenhang mit den Donaueschinger Musiktagen berichtet wird, gefährdet die deutsche und auch die internationale Musikszene, vor allem die Verpflichtung gegenüber der Neuen Musik und ihren Komponisten, in hohem Maße. Wer soll in Zukunft die oft schwierigen neuen Werke authentisch aufführen, wenn nicht die dafür prädestinierten Sinfonieorchester der deutschen Rundfunkanstalten.
Neben dem zur Disposition stehenden Orchester Baden-Baden und Freiburg, das seit Hans Rosbauds Zeiten Weltruf genießt, setzt sich vor allem das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks immer wieder für die Neue Musik ein, besonders in seiner musica-viva-Reihe, die vor mehr als sechzig Jahren unmittelbar nach der Weltkriegskatastrophe von Karl Amadeus Hartmann ins Leben gerufen wurde. Seit dieser Saison hat die musica viva einen neuen künstlerischen Leiter: Winrich Hopp aus Berlin, der schon früher einmal als Assistent Udo Zimmermanns für die musica viva gearbeitet hat. Mit einer grandiosen Aufführung von Wolfgang Rihms „Tutuguri“-Tanz-Poems begann die neue Zeit verheißungsvoll.
Die szenische Umsetzung damals in der Berliner Aufführung verstellte mit ihrem Versuch, dem Werk ein narratives Element einzuimpfen, den Blick auf das Entscheidende: Rihms „Tutuguri“ erzählt nichts, beschwört vielmehr in doppelter Brechung einen alten Ritus mexikanischer Indianer – aus der Perspektive des französischen Dichters Antonin Artaud, der Mitte der 30-Jahre nach Mexiko zu den Tarahumara-Indianern aufbrach und in deren Rituale eintauchte. Dahinter stand nicht bloß Forscherehrgeiz; eher der Versuch einer Selbstbefreiung, der Ausbruch aus der eigenen inneren Gefangenschaft, den gesellschaftlichen Zwängen der Zeit, das Eintauchen in eine neue seelische Dimension des eigenen Ichs.
Die magische Beschwörung in den Bildern von den „Sechs schwarzen Kreuzen“, verkörpert in sechs nackten Männern, der siebte als eine Art Kentaur mit Pferdekörper, die „Schwarze Sonne“, die sich selbst verbrennt – das alles hat seinerzeit die literarische Öffentlichkeit irritiert und Artaud schließlich in die Nervenklinik gebracht. Heute stellt man mit Bestürzung fest, dass Artauds poetische Imaginationen und Visionen einem sehr realen Grundgefühl entsprangen: Wissen wir nicht, dass die Sonne, die überhaupt erst das Leben ermöglicht, unablässig selbst verglüht.
Das sind Gedanken, die einen auch in dieser denkwürdigen Münchener „Tutuguri“-Aufführung begleiten. Wolfgang Rihms Musik, vor mehr als dreißig Jahren entstanden, springt den Zuhörer förmlich an: mit ihrer aggressiven Direktheit, den gewaltigen Explosionen des Schlagwerks, in dem sich alle nur denkbaren Instrumente finden lassen, dem wuchtig-anschwellenden Großklang des gesamten Orchesterapparats, den rituellen Repetitionen der Bläser oder eines Schlaginstruments, den gleichsam implodierenden Klangflächen und feinen Klanggespinsten – das alles wirkt unverändert lebendig, vital, zumal vor dem Hintergrund gegenwärtigen Komponierens, das sich oft in ziselierten Pianissimo-Studien erschöpft.
Dass Rihm dabei keine „Geschichte“ vertonte, nimmt schon manche Musiktheater- Experimente von heute vorweg: Matthias Pintschers „Rimbaud“-Oper oder Isabel Mundrys „Ein Atemzug – Die Odyssee“ agieren ebenfalls quasi abstrakt mit Inhalten, die in der Musik „erzählt“ werden. Kent Nagano, der das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zum ersten Mal dirigierte, entband in Rihms „Tutuguri“-Musik auf bestechende Manier das Gestische, verknüpfte die getrennten „Klanginseln“, die „Zustände“ des Rituals, individuell mit großer Plastizität und einer unerhörten inneren Gespanntheit. Das Orchester spielte in Hochform.