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Finnische Mitternacht auf dem kahlen Berge: Petri Keskitalo bläst ein Solo. Die Seilakrobatin hat sich vorerst zurückgezogen. Foto: Juan Martin Koch
Finnische Mitternacht auf dem kahlen Berge: Petri Keskitalo bläst ein Solo. Die Seilakrobatin hat sich vorerst zurückgezogen. Foto: Juan Martin Koch
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Nichts als Musik

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Das finnische Festival „Musiikin aika“
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Irgendwas stimmt da nicht. Veli Kujala vom Trio Pipoka hat an seinem Knopfakkordeon ein neues Register eingestellt und setzt zu einem Solo über Piazzollas „Vuelvo als sur“ an, aber das klingt merkwürdig schräg. Die Tonhöhe ist scharf neben der Spur. Kujala schaut leicht perplex auf sein Spielgerät und fummelt noch ein wenig daran herum. Ohne Erfolg …
Es ist der letzte Abend, „Jatkot“, eine „Party“ ist angekündigt, aber wie schon an den fünf Tagen zuvor im finnischen Viitasaari erinnert nichts an einen proseccogeschwängerten Event. Wir haben nach dem letzten Konzert in der Turnhalle den Parkplatz des Schulzentrums überquert und sitzen nun in einem auch als Kino genutzten Theaterraum. Einzig das Programm macht mit ein wenig Tango und Jazz zarte Zugeständnisse an einen bunten Abend, an dem freilich eine Uraufführung nicht fehlen darf: Virpi Räisänen-Midth singt zwei zerbrechliche Lieder Minna Leinonens, am Akkordeon begleitet von Timo Kinnunen.

Auf ihn geht es zurück, dass „Musii­kin aika – Time of Music“ vor 25 Jahren ausgerechnet in diesem rund 100 Kilometer nördlich der Universitätsstadt Jyväskylä gelegenen 4.500-Seelen-Ort landete, aus dem er stammt. Als zusammen mit dem Komponisten Jukka Tiensuu die Idee entstand, dem traditionellen Ausbildungsbetrieb an der Sibelius Akademie in Helsinki Sommerkurse für Komponisten und Instrumentalisten entgegenzusetzen, plädierte Kinnunen für den diskreten Charme der Provinz. Man wollte dem damaligen Monopolisten in Sachen Kompositionsunterricht auch geografisch den Rücken kehren. Und konnte sich gleichzeitig sicher sein, dass in dem architektonisch und atmosphärisch gleichermaßen trostlosen Städtchen nichts von der Konzentration aufs Neue ablenken würde als der See und der Wald. „This place has nothing“ – diese lapidare Feststellung Jukka Tiensuus markiert zusammen mit der in vielen Gesprächen wiederkehrenden Verortung Viitasaaris als „in the middle of nowhere“ die Chance, die man im Rückzug ins Landesinnere sah.

Tiensuu, der für das erst allmählich, im Zuge steigender Zuschüsse, zum Festival mit Konzertschwerpunkt avancierte Avantgarde-Treffen 17 Jahre lang verantwortlich war, ist nach langer Abstinenz zurückgekehrt nach Vii­tasaari. Die Voraussetzungslosigkeit des Ortes und die Offenheit des kleinen, aber treuen Publikums haben, so glaubt er, das Festival zu dem gemacht, was es nun ist: zum wichtigsten Treffpunkt für zeitgenössische Musik in Finnland neben dem Musica-Nova-Festival in Helsinki. Letzteres hat allerdings – so nicht nur Tiensuus Einschätzung – in diesem Jahr mit einem rein finnischen Programm einen Rückschritt in jene national gefärbte Selbstzufriedenheit gemacht, von der man sich in Viitasaari vor 25 Jahren bewusst befreite: John Cage (der schon 1983 kam und dort seinen einzigen Kompositionskurs gab), Vinko Globokar (der zweimal eingeladen wurde), Xenakis, Kagel, Crumb, Ferneyhough, Lachenmann … was immer sich in der Neue-Musik-Szene tat, hier stieß es auf Widerhall, ganz unmittelbar durch den direkten Kontakt und indem bis dahin wenig gespielte Komponisten ihren Weg ins Repertoire eines parallel zur Entwicklung von „Musikiin aika“ enorm aufstrebenden finnischen Konzertlebens fanden.

Der in Frankreich lebende Grieche Georges Aperghis war es nun, der in diesem Jahr mit seinem instrumentalen Theater viele Programme prägte. Im Eröffnungskonzert waren seine „Sept crimes de l’amour“ der Höhepunkt einer etwas diffusen, von verschiedenen Ensembles bestrittenen Zusammenstellung; das „Requiem furtif“ brachte, passenderweise in der Friedhofskapelle, den Geiger John Storgards und die phänomenale Percussionistin Françoise Rivalland zusammen. In diesem atmosphärisch gelungensten Konzert war sie es auch, die am Cimbalom die zerbrechlich klaren Miniaturen György Kurtágs zum Vibrieren brachte. Die Intensität, mit der sie Aperghis’ vokal und schauspielerisch beängstigend dramatisiertes Zarb-Solo „Le corps à corps“ zu einer körperlichen Grenzerfahrung machte, überstrahlte schließlich ein weiteres Konzert, bei dem andere Werke, auch solche von Aperghis selbst, verblassen mussten. In „Alter ego“, einem Dialog des Spielers mit seinem Saxophon und den wunderbaren Klavierminiaturen „Les secrets élementaires“ waren schließlich zwei eminente Begabungen des finnischen Musikernachwuchses zu erleben: Joonatan Rautiola und Marko Hilpo.

Weitere Höhepunkte brachten die Auftritte des holländischen Ensembles Insomnio und des französischen Diotima Quartetts. Die groß besetzten „Schlaflosen“ überraschten mit erstaunlich konzertanten Werken Gabriel Erkorekas („Jukal“, Nelleke ter Berg an der Gitarre) und Martijn Paddings („Eight Metal Strings“, aus dem Vollen perkussiven Spielwitzes schöpfte hier Diego Espinosa). Zudem lieferten sie eine umjubelte Wiederaufführung von Jukka Tiensuus „nemo“ (1997): eigenständige, raumgreifende Musik von einer gänzlich unnaiven und doch unmittelbar berührenden Naturhaftigkeit. Das Quatuor Diotima hatte neben Juha Koskinens erstem Streichquartett, das sich mutig tonale Flächen erobert, die Auftragskomposition des Festivals erarbeitet: Sampo Haapamäkis „Connection“. Der Mahnkopf-Schüler und Gaudeamus-Preisträger hat ein rhythmisch prägnantes, vorwärts drängendes Stück vorgelegt, das seine Vierteltonstruktur nicht gelehrt vor sich herträgt, sondern zur Detailschärfung einsetzt. Die Finesse und Präzision, mit der die vier Streicher dann Lachenmanns „Grido“ zelebrierten, offenbarte die paradoxe Schönheit dieses kompromisslosen Meisterwerks.

Eine Konstante in Viitasaari ist die Suche nach Verbindungslinien zu anderen Kreativbereichen. In diesem Jahr hatte Festivalleiter Tapio Tuomela Artisten des Circo Aereo mit einigen der Musiker zusammengebracht. Und so pilgerte in der immer noch dämmernden Mitternachtssonne die eingeschworene Zuhörerschar zu einer „Nacht auf dem kahlen Berge“ im Wald und bewunderte die akrobatischen Einlagen, mit denen die Werke mal dezent ins Seil sich verheddernd, mal virtuos Holzblöcke schichtend kommentiert wurden. Echte Konvergenzen schienen sich aber eher zufällig zu ergeben, oft drängte der starke optische Eindruck die Musik in den Hintergrund.

Das konnte beim Auftritt der Stuttgarter „Neuen Vokalsolisten“ kaum passieren. Aperghis hatte die Verknüpfung mit den Akrobaten für seine Werke abgelehnt und so entfalteten sich zwei Ausschnitte aus der Wölfli-Kantate mit ungeteilter Konzentration. Aber auch Charlotte Seithers „seeds of noises“ wurden von den sechs phänomenalen Stimmkünstlern so fesselnd dargeboten, dass die ebenso aberwitzigen wie poetischen Handstandverrenkungen nicht als ablenkendes Beiwerk, sondern als Chiffren für die zunehmende Überlagerung des Geräuschhaften mit Gesang funktionierten.

Zurück auf der Abschlussparty horchen wir weiter auf Veli Kujala: Sein Akkordeon bläst nach wie vor ziemlich verquere Töne in den Raum, aber mittlerweile ist klar, dass er mit dem eigens angefertigten Viertelton-Register (Sampo Haapamäki schreibt an einem Konzert dafür) nur sein Spiel mit den Zuhörern treibt. Aberwitzig steigert sich sein Solo zu finnischem Avantgarde-Tango und kehrt dann heim in vertrautes Terrain. „Vuelvo al sur“ – auch den Berichterstatter zieht es dorthin zurück, wo von Finnland aus betrachtet Süden ist. Alles eine Frage der Perspektive.

Der Autor besuchte das Festival „Musiikin aika“ in Viitasaari auf Einladung des Finnischen Außenministeriums.

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