Wer wollte sich über eine solche Fülle und Verschiedenheit neuer Kompositionen beschweren? Fast alle Stücke waren gut gemacht, handwerklich gekonnt, vielfarbig, klangsinnlich, unterhaltsam, brillant instrumentiert und exzellent interpretiert. Dennoch fehlte ausgerechnet das, was auf einem solch exponierten Forum der neuen Musik noch wichtiger ist als zwei Dutzend einhellig akklamierte Uraufführungen von 13 Komponistinnen und 10 Komponisten in zu 97 Prozent ausverkaufen Konzerten. Es gab keine Aufregung, Provokation, Kontroverse, Diskussion. Manche haben das vielleicht nicht einmal vermisst, doch kommt es zur systemischen Krise, wenn über längere Zeit selbstzufriedene Routine und Professionalität dominiert. Neue Musik war einst dezidierte Kritik des Bestehenden und wagemutiger Vorgriff auf eine wie auch immer imaginierte Zukunft. Doch inzwischen hat sie sich als Genre etabliert und in ihren hundertjährigen Errungenschaften wohnlich eingerichtet.
Uraufführung von Hanna Eimermachers „Aura“ für 22 Performer:innen im Bartók Saal. Foto: SWR/Ralf Brunner
Nur die Ruhe vor dem Sprung?
Von einem Festival „Zukunftsmusik“ zu erwarten, wäre vermessen und kaum anderes als die sonst überall herrschende Skandal- und Sensationsgier. Doch wo sonst, wenn nicht an einem Brennpunkt wie den Donaueschinger Musiktagen, sollte mit Materialien, Medien, Formaten, Produktions- und Präsentationsweisen experimentiert werden? Es gilt erstarrte Kategorien zu verflüssigen, mediale Entwicklungen zu reflektieren, abgestumpfte Wahrnehmung zu schärfen, neue Differenzerfahrungen zu ermöglichen und das Rad der Musikgeschichte zumindest ein winziges Stückchen in welches Neuland auch immer weiter zu drehen. Stattdessen pflegten die diesjährigen Uraufführungen Bewährtes, gaben sich bescheiden, sensibel, still, brav, kleinlaut. Die von der künstlerischen Leiterin Lydia Rilling eingeladenen Komponistinnen und Komponisten wollten lieber spielen und gefallen als Ungewohntes wagen, aufrütteln oder gar Publikum und Fachwelt vor den Kopf stoßen. Das Motto „Voices unbound“ versprach Entfesselung und Revolution. Doch die Novitäten gingen nicht über Dadaismus, Lettrismus und die physischen Emanzipationspraktiken der 1960er Jahre hinaus, mit denen Sing-, Sprech- und Instrumentalstimme längst von Semantik, Syntax und klassischen Schönheitsidealen befreit wurden.
Diesseits des Guckkastens
Dass das SWR-Sinfonieorchester wie eh und je seit 1950 das Eröffnungs- und Abschlusskonzert gestaltete, ist großartig und zeigte einmal mehr, wie wichtig es ist und bleibt, dass die Rundfunkanstalt seit 75 Jahren die Musiktage organisiert, mitschneidet, sendet und mit ihren Klangkörpern bereichert. Doch zugleich wird dadurch ein Drittel aller Novitäten auf den traditionellen Orchesterapparat festgelegt, mit dem manche Komponierenden hörbar nichts anfangen wollen oder können. Auf Kosten alternativer Besetzungen, Medien und Formate geht auch das traditionelle Konzertdispositiv. Obwohl viele unterschiedlich dimensionierte Sporthallen flexible Situierungen erlauben, wurde das Publikum überall in starre Stuhlreihen gezwängt und auf frontale Bühnen zentriert. Selten wurde das klassische Format so sehr als verinnerlichte Scheuklappe greifbar wie bei seiner Verpflanzung auf den Lammplatz zu Füßen der Stadtkirche. Dort in der wärmenden Abendsonne zu sitzen, war zwar schön, aber für Tristan Perichs minimalistische „Reflections of a Bright Object“ für Mundharmonikas und Elektronik hätten gerade hier andere Aufführungspraktiken nahegelegen. Beispielsweise hätte das Ensemble HANATSUmiroir durch die Stadt spazieren können, um mit den vom benachbarten Trossingen aus in die ganze Welt exportierten Wander-, Blues- und Cowboy-Instrumenten der Marke Hohner auch wirklich auf Wanderschaft zu gehen. Wieso steckt man die Köpfe immer in den gleichen Guckkasten? Warum diese mutlose Vogelstraußtaktik?
Andere Zugänge erlaubten nur drei Klanginstallationen sowie Hanna Eimermachers „Aura“ im Bartók Saal der Donauhallen mit dem um und in das Publikum platzierten Klangforum Wien. Längs des Saals traktierten drei Schlagzeuger riesige Trommeln, obertonreich sirrende Aluminiumstäbe und unter Bogenstrichen wie Entenschwärme schnatternde Kunststoffplatten. Bläser, Streicher und Synthesizer wogten in sanften Wellen als wohltuendes Klangbad durch den wie in der Lichtsauna abwechselnd mit Gletscherblau und warmer Terra Siena beleuchteten Raum.
Entfalten oder Reihen
Der Auftritt des alt-neuen SWR-Chefdirigenten François-Xavier Roth wurde im Eröffnungskonzert wegen seiner im Mai 2024 bekannt gewordenen sexuellen Übergriffe bei Les Siècles und im Gürzenich-Orchester Köln mit einigen zaghaften Buhs begrüßt. Dann ging man jedoch schnell zur Tagesordnung über. Mark Andres „Im Entfalten“ begann mit zartem Fingertremolo auf einem Donnerblech, dessen dunkles Raunen sich in die Farbspektren des Orchesters ebenso leise verzweigte. Der groß besetzte Apparat entwickelte hoch differenzierte Timbres und Valeurs, blieb aber stets schemenhaft, brüchig und ungreifbar schwebend, als würde er sich nie wirklich materialisieren. Am Ende mündeten alle Spektren wieder im Donnerblech, dessen rauschendes Total aller Frequenzen sich schließlich auf einen mit E-Bow im Innenklavier erzeugten Sinuston reduzierte – ein hörbares Symbol für Stillstand, Tod und Transsubstantiation. Der bekennende Christ Andre widmete sein Stück dem „Andenken an Pierre Boulez“. Obwohl in der Faktur typisch für den 1964 geborenen Komponisten und deswegen in bestimmten Grenzen erwartbar, zog das konzise und vom Orchester intensiv musizierte „Entfalten“ von Material, Form und Aussage in Bann.
Die übrigen Orchesterwerke reihten eher Effekte und Episoden. In Turgut Erçetins „There recedes a silence“ durfte Soloklarinettist Carl Rosman über weite Strecken alleine mit Multiphonics hauchen, fiepen, wimmern. Auch während eines langen Harfensolos saßen die achtzig Orchestermitglieder nur untätig da, als hätte sie der Komponist auf seinem biedermeierlichen Rückzug zu tönend bewegtem Blütenstaub schlicht vergessen. Imsu Chois „Miro“ begann energetisch mit Pulsationen, ließ den steigenden Druck dann aber durch seufzende Atemstöße und Glissandi prompt wieder entweichen, als könne und dürfe es heute keine kraftvolle Musik mehr geben. Der 1959 geborene Philippe Leroux erhielt für „Paris, Banlieue“ den Orchesterpreis des SWR Symphonieorchesters. Sein launiger Streifzug durch Vororte der französischen Hauptstadt reihte in bunter Folge Tänze, Märsche, Galopp, Tingeltangel, dystopisch dröhnende Elektronik und apokalyptische Posaunen. Bei der Preisverleihung richtete Schlagzeuger Felix Birnbaum als Sprecher der Orchesterjury den Wunsch an die Komponierenden, sie möchten die Möglichkeiten dieses großen, vielstimmigen, neugierigen und für Experimente aufgeschlossenen Apparats doch bitte wirklich nutzen.
Rezept oder Konzept
Das von Elena Schwarz im Abschlusskonzert dirigierte SWR Symphonieorchester spielte Mirela Ivičevićs „Red Thread Mermaid“, eine neotonale Märchendichtung à la Zemlinsky, in der es blitzt, sprüht, perlt, ozeanisch braust und die von pathetischem Hollywood-Sound geblähten Segeln nur stellenweise durch geloopte Gesten und Lähmungsanfälle erschlafften. Andernorts ist solch epigonaler Remix als nette Unterhaltung willkommen, doch was soll das in Donaueschingen? Naomi Pinnocks neo-scelsianische Klangfarbenmusik „I put lines down and wipe them away“ ließ aus initialem Rauschen wechselseitig sich überlagernde Töne, Farben und Akkorde behutsam an- und abschwellen. Mit langem Atem hoch konzentriert musiziert blieb der ephebische Elfentanz gleichwohl langatmig und flach.
Laure M. Hiendls „The deepest continuity…“ adaptierte das von Bernhard Langs Serie „DW“ mit Splittern traditioneller Musik bereits dutzendfach durchgespielte Prinzip von Differenz und Wiederholung für einen kurzen Ausschnitt aus Ralph Vaughan Williams’ 7. Symphonie. Dieser wird nach allen Regel der Copy&Paste-Puzzlekunst geloopt, versetzt, geschnitten, instrumentiert und rhythmisiert. Die konzeptuelle Unwiederholbarkeit im Detail erzeugte jedoch nur quälende Monotonie. Hanna Hartman notierte für „Advanced Weather Information Processing System“ kleine Grafiken, die das Orchester auf Instrumenten, Steinen, Klettverschlüssen, Schmirgelpapier und vibrierenden Messern individuell umsetzte und zu Schwarmstrukturen addierte. Die Klänge wurden vom SWR Experimentalstudio dicht am Ort der Erzeugung und sogar in den Blasinstrumenten mikrophoniert und dann mit Aufnahmen von Donner, Wind, Regen, Tierlauten und Telefontönen im Saal projiziert.
Wie statt Was
Tatsächlich für „Voices“ komponierte Georges Aperghis sein dreiviertelstündiges „Tell Tales“. Wie eine aufgekratzte Tischgesellschaft setzen Bratschistin Tabea Zimmermann und Vokalsextett EXAUDI alle gleichzeitig ein, so dass man kein Wort versteht. Verdattert bricht man ab und beginnt nach kurzem Schock erneut, denn alle wollen ihre Geschichte erzählen. Erst nach und nach findet man zu kommunikativen Konstellationen: die Bratsche setzt sich solistisch ab, Zweier- und Dreiergrüppchen entstehen, die Soprane begleiten den Tenor mit rhythmisch wiederholten Silben, man hört aufeinander, redet abwechselnd, lässt anderen den Vortritt und spricht plötzlich synchron mit einer Stimme.
Die virtuosen Kombinationen von Homo- und Polyphonie, Soli und Tutti erinnern an die Madrigalkunst des 16./17. Jahrhunderts. Anfänglich ohne Varianz von Dynamik, Ambitus und Timbre betont gleichförmig vorgetragen, wird die Stimmbehandlung immer lebhafter. Man säuselt, schimpft, klagt und doziert auf Englisch, Französisch und womöglich weiteren Sprachen, doch die Silben verschlingen sich alle zu einer komplett unverständlichen Fantasiesprache. Aperghis lenkt die Aufmerksamkeit konsequent vom Verstehen-Wollen des Was der „Tales“ auf das Hören des Wie der verschiedenen Artikulationsweisen.
Spaß und Ernst
Unter Leitung von Vimbayi Kaziboni spielte das Klangforum Wien vier weitere Uraufführungen. Alexander Khubeev ließ in „Garmonbozia“ das mit Styropor und Tierlockinstrumenten verfremdete Ensemble wie eine Maschine pfeifen, schaben, quietschen, stoßen. Als würden Hebel, Räder, Kolben und Walzen immer emsiger arbeiten, resultiert eine zunehmend dichter ratternde Heterophonie, deren anarchistische Mechanik am Ende plötzlich in stampfenden Gleichschritt umschlägt – vielleicht als Gleichnis für aktuelle gesellschaftliche Prozesse in immer mehr Ländern? Anna Korsuns „Vivrisses“ entfaltete ein flirrendes Waldweben aus mikrotonal überlagerten Liegetönen. Francesca Verunelli hatte angekündigt, in „La nuda voce“ den Kipppunkt von vokaler Artikulation zum Gesang ausloten zu wollen. Doch Sopranistin Johanna Vargas durfte gleich von Anfang schön singen, zunächst leise und fast gesummt, dann umso kraftvoller strahlend.
Koka Nikoladze unterlief schon im Titel „Masterpiece“ ironisch alle Erwartungen an Meisterschaft. Wie im „Marsch der Gehirnzermatschung“ von Bernd Alois Zimmermanns satirischer „Musique pour les soupers du Roi Ubu“ hämmerte das Tutti unentwegt einen gellenden Akkord im Wechsel mit einer synthetischen Stimme in japanischem Tonfall, die von 7 über 77 und 777 bis zur 21-stelligen Reihung der Ziffer 7 zählte und dadurch einen witzigen Sprachrhythmus erzeugte. Der demonstrativ nichtssagende Text samt selbstbezüglicher Verdoppelung im Video pulverisierte alle traditionell und aktuell an Kunst geknüpfte Hoffnungen auf Innovation, Originalität, Sensibilisierung, Transzendenz, Zeitdiagnostik, Aktivismus, Relevanz… Und genau damit gab der scheinbare Klamauk einen selbstkritischen Impuls zum Nachdenken darüber, was Kunst einst war, heute nicht mehr ist, und vielleicht wieder werden könnte.
Pause oder Anlauf
Was bleibt von den Donaueschinger Musiktagen 2025? Binnen eines Jahres wird kaum mehr etwas von den beschriebenen Stücken erinnert werden. Es gab viele gediegene Werke, solide Qualität und luzide Klangkompositionen im traditionellen Setting, aber keine Tops und Flops, die gestört, geärgert und Debatten ausgelöst hätten. Die Musikgeschichte hat auf der Baar offenbar gerade die Pausentaste gedrückt. Doch was auf der Stelle tritt oder sogar ein paar Schritte zurückgeht, holt vielleicht nur Anlauf für den nächsten Sprung? Den darf man dann gerne bei den Donaueschinger Musiktagen 2026 wagen.
Rainer Nonnenmann teilt direkt nach dem Eröffnungskonzert der Donaueschinger Musiktage am 17. Oktober 2025 mit dem SWR Symphonieorchester unter dem alt-neuen Chefdirigenten François-Xavier Roth seine frischen Impressionen und Einschätzungen mit.
Das Programm des Konzerts:
Mark Andre, „Im Entfalten. Dem Andenken an Pierre Boulez“ für Orchester (UA)
Turgut Erçetin, „There recedes a silence, faceting beyond enclosures“ für Klarinette und Orchester (UA)
Imsu Choi, „Miro“ für Orchester (UA)
Philippe Leroux, „Paris, Banlieue“ für Orchester und Elektronik (UA), Auftrag von SWR, IRCAM-Centre Pompidou und Radio France
Mitwirkende:
Carl Rosman Klarinette
IRCAM
SWR Symphonieorchester
François-Xavier Roth Leitung
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