„La Traviata“ an der Staatsoper im Schillertheater. Eine möglicherweise der Verdi-Neuproduktion zugrunde liegende Absicht, mit der biederen szenischen Umsetzung der „Traviata“ seien alle konservativen Opernbesucher vorweihnachtlich zufriedengestellt, schlug fehl – wie sich dies am mageren Schlussapplaus nach der Premiere der Staatsoper im Schillertheater ablesen ließ.
Alt-Meister Dieter Dorn, der früher – zusammen mit Ausstatter Jürgen Rose – zumindest für ästhetisch opulente Umsetzungen von Opernspielvorlagen gesorgt hatte – ist diesmal kaum etwas eingefallen, außer einem rosafarbenen Totenkopf, den neun namentlich im Programmheft genannte Tänzer*innen hinter einem zentralen Spiegel mehr schlecht als recht nachvollziehbar bilden (Choreographie (Martin Gruber). Die sechs weiblichen der Totenkopf-Partikel in durchsichtigen Nackt-Trikots betreten dann auch die Spielfläche, zunächst mit trikotüberzogenen Köpfen, dann mit ihren individuellen Gesichtern.
Jene Geldscheine, die Alfredo der Violetta im dritten Akt öffentlich wütend zwischen die Schenkel gestopft hat, sammelt Dienerin Annina im Vorspiel zum Schlussakt auf und legt sie in eine Kassette – aber wenig später zählt sie darin nur noch 20 Louisdor. Dass einem Regisseur, der die Spielvorlagen im Schauspiel so präzise analysierend umgesetzt hat, derartige Fehler unterlaufen, erscheint kaum nachvollziehbar. Fragen, die Librettist Francesco Maria Piave stellt, etwa mit dem Auftreten der Chöre von Wahrsagerinnen und Torreros im Fest bei Flora, bleiben vom Regisseur unbeantwortet. Und all zu beliebig und unpräzise bebildern Kinder im Schlussakt das Hereinbrechen eines Karnevals-Ritus an das Sterbelager der tuberkulösen Demimonde-Heldin.
Joanna Piestrzynska hat als Einheitsspielort für die pausenlose Aufführung eine Scheibe á la Wieland Wagner auf die Bühne gesetzt; darauf Tisch und Stuhl, sowie einen Sandsack, aus dem es auf den Boden rieselt – aha, die Zeit vergeht! Die heutige Kostümierung von Moidele Bickel kann sich zur Recht auf die einzige Gegenwartshandlung in Verdis Opernschaffen berufen. Doch die statische Chorführung des von Martin Wright trefflich einstudierten Staatsopernchores und die beliebig nichtssagenden Allerweltsgesten der Solisten weisen zurück auf eine arg antiquierte Theaterform von vor deutlich mehr als einem halben Jahrhundert. Benötigte Requisiten werden an diesen Einheitsspielort von den Chorist*innen mitgebracht, und Teile eines Lotterlagers werden für die Bilder 2 bis 4 vor den Spiegel geworfen. Szenisch zielt Alles darauf hin, dass die Traviata am Ende Bestandteil des Bildes mit dem Totenkopf wird: die Solisten verdecken ihren heimlichen Abgang durch eine Tür in der geborstenen Spiegelwand, aber das Publikum wartet vergeblich auf das totenköpfige Schlusstableau, denn hinter der Spiegelwand bleibt es dunkel.
Leider reicht auch das musikalische Niveau kaum über das eines mittleren Stadttheaters hinaus. Stimmlich (aber leider nicht darstellerisch) übertrumpft Jan Martiník als Doktor Grenvil seine Ensemblekollegen Florian Hoffmann als Gaston, Dominic Barberi als Barone Douphol und Grigory Shkarupa als Marchese D’Obigny, wie auch Cristina Damian als Flora Bervoix. Katharina Kammerloher stakst als Annina wie eine verhinderte Mata Hari über die Szene. Die bulgarische Sopranistin Sonya Yoncheva verfügt als Violetta Valéry über einen tragfähigen Sopran mit schönen Piani, erschöpft sich darstellerisch jedoch im An- und Ablegen eines silbernen Paillettenkleides über schwarzem Unterrock. Die Partie des Vaters Alfredo Germont hat Verdi so komponiert, dass sie immer und überall ein Erfolg wird – möglicherweise mit bösem Hintergedanken: dessen immer wieder im Dunstkreis der Traviata erfolgendes Auftreten legt es geradezu nahe, dass auch dieser Familienvater ein Verhältnis mit Violetta hat, der Konflikt mit Alfredo also auch ein Vater-Sohn-Konflikt ist, der auf dieser Ebene ausgetragen wird. In der Berliner Neuinszenierung bleibt die Rolle von Giorigio Germont (Simone Piazzola) allerdings undefiniert, bis der, auf dem Boden des ländlichen Refugiums liegend, eine Position gefunden hat, bei der sein geradezu peinlich gestisches Allerweltsgehabe nicht stört. Abdellah Lasri als Alfredo hat gutes Material, aber einen unausgereiften Registerwechsel, der bei zu viel Druck zu unschönen Wacklern führt; das brachte dem marokkanischen Tenor auch einige Buhrufe ein.
Die Staatskapelle spielte sauber – und ausgesprochen schön im sehr verhaltenen Piano zu Beginn des Vorspiels. Allerdings stellt diese Partitur auch für B-Orchester keine besondere Schwierigkeit dar. So gesehen erscheint es seltsam, dass sich der Generalmusikdirektor am Ende des Premierenabends gemeinsam mit dem Orchester auf der Bühne verneigt hat, was nach langen und besonders schwierigen Partituren üblich ist und dort eher angebracht erscheint. Außerdem verlängerte Barenboim die Applausdauer am Premierenabend, indem er, als das Klatschen bereits versiegt war, noch vor dem Vorhang stehen blieb und drei weitere Vorhänge für die Beteiligten erpresste – um so dem Altherren-Abend doch noch einen scheinbaren Publikumserfolg anzudienen.
- Weitere Aufführungen: 22., 25., 27., 31. Dezember 2015.