Derzeit steht der Film „Oliver Sacks: His Own Life“ (2019) über den 2015 an Krebs verstorbenen Neurologen in der ARD-Mediathek. Peter Greenaways Filmkomponist Michael Nyman brachte seine Kammeroper „Der Mann, der seine Frau für einen Hut hielt“ (The Man Who Mistook His Wife for a Hat) 1986 in London heraus. Heute ist diese Vertonung von Sacks’ Bestseller-Fallbeschreibung nicht mehr ganz so häufig zu erleben wie vor 2000.
Für dieses Stück bräuchte es etwas mehr von der im Wortsinn ‚ver-rückten‘ Weltsicht Nymans und Sacks’ als man an der HMT Leipzig zu zeigen gewillt war. Die recht glatte Umsetzung schöpfte bei weitem nicht alle Möglichkeiten der gut gebauten Kammeroper aus.
Es ging voll normal zu, genau genommen zu normal. Die Abwesenheit neuerer Geräte wie Smartphone und PC lassen an die Jahre von Walkman und Tastentelefon denken. Ein Vertrauen erweckender Arzt, der Patient Dr. P. und seine Frau haben ihre eigenen Zimmerecken mit himmelblauen Wänden und hübschen Vorhängen. Im schwarzen Zwischenraum versuchen sie ihre individuellen Nervenbahnen in kompatible Diskursbereitschaft zu bringen. In den 1980ern, als die Krankenkassen voll waren, es noch kaum Zuzahlungsauflagen gab und jeder Therapie-Willige auch eine bekam, hätte dieses Set von Claudia Weinhart supergut funktioniert. Aber die Zeiten ändern sich. Heute geht es in Neuro- und Psychotherapien vor allem um die Optimierung des humanoiden Funktionsdesigns im flexiblen Kapitalismus. Schon deshalb ist der humane Ansatz von Sacks’, der – ungewöhnlich für einen Neurologen – in seiner Diagnostik die Psychen berücksichtigte, aktuell etwas aus der Zeit gefallen. Auch Nymans Musik ist 35 Jahre nach der Uraufführung in einem sensiblen Stadium ihrer Wirkungsgeschichte. Dezent klingt sie jetzt nach Alter Schule, bevor sie in weiteren zwei Jahrzehnten vielleicht doch noch zu einem Klassiker mit Reibungsreizen wird wie etwa Argentos „Postcard from Marocco“ (2018 eine spannend geschärfte HMT-Studioproduktion). Wer Nymans Schönklang derart auf den Leim geht wie Sebastian Gühnes Inszenierung, verzichtet bei dieser Oper auf Entscheidendes. Für ein hyperrealistisches Genrebild wiederum war die szenische Choreografie zu lieblich.
Bereits im Frühjahr 2021 kam diese Studioproduktion der Fachrichtung Klassischer Gesang/Musiktheater im geschlossenen Lockdown-Rahmen heraus und erlebte jetzt in der Position, wo es sonst im Herbst eine Neuproduktion gibt, ihre Publikumspremiere. In der aufgrund Hygienekonzept nur zu einem Drittel besetzten Blackbox wurde mit leidenschaftlicher Kommilitonen-Empathie applaudiert. Zum Teil berechtigt. Auch berufserfahrenen Opernsängern fällt die Rückkehr in die volle Bühnenintensität aus der pandemischen Zwangspause schwer – umso mehr Studierenden. Denn erst nach über dreißig Minuten, wenn Johanna Ihrig als Mrs. P. dem musikalischen Liter Ulrich Pakusch den Platz am Flügel streitig macht und ihren Bühnengatten Joan Vincent Hoppe bei dessen Vortrag von Robert Schumanns Lied „Ich grolle nicht“ begleitet, bricht das Eis des glatten Musizierens und Deklamierens. Gesungen wurde in einem oft undeutlichen Englisch. Auch deshalb zerfiel die Reihung von Anamnese, Diagnostik und Analyse in Form von Konsultationen und Angehörigenbefragungen zu inkohärenten Szeneteilen. In seinem Bemühen, den wesensverändertem Mr. P. nicht sentimental werden zu lassen, wirkt Hoppe leicht abwesend und hölzern. Paul Kmetsch, der dem jungen „Dr. S.“ – also Oliver Sacks – leicht ähnelt, wirft grübelnde Blicke und hat auch die loyale Therapeuten-Aura. Manchmal helfen die Übertitel weiter. Diese enthalten keine Übersetzung der gesungenen Dialoge, sondern beschreiben für die Handlung besonders wichtige Aktionen. So greift Sebastian Gühne in seiner Inszenierung meistens zu Zeigefingermitteln, die das nicht Erkennbare erklären. Das langsame und eigentlich quälende Verschwinden einer entpersönlichten Psyche von P. bleibt glatt und flau. Das liegt auch an der musikalischen Haltung: Ulrich Pakusch flutet Nymans Wohlklangbäder mit viel Pedal, aber ohne Witz und Ironie. Vieles klingt wie „Ballade pour Adeline“. So etwas hätte man in den 1980gern Patienten nicht einmal als Wartezimmerbeschallung zugemutet.
Die drei Sänger waren demzufolge mehr mit der Produktion großer, zum Teil sehr guter Schmelztöne beschäftigt als mit deren Ursache und Wirkung. Deshalb gerät die endlich öffentliche Premiere zur erfolgreichen und oft recht lautstarken Bestätigung der eigenen performativen Präsenz. Nymans retro-romantische bis eindrücklich melodiensatte Partitur erklingt ohne jene Fragezeichen, welche im Text und Notentext allgegenwärtig sind. Dabei zeigte das dreiköpfige Ensemble, wie gerne es pointierter gespielt hätten und dass es schon viele wichtige Potenziale zu einem wahrhaftigen Ausdruck besitzt. Die nächste Studioproduktion unter Karoline Gruber, welche nach der Pensionierung von Matthias Oldag in die Professur für Dramatischen Unterricht berufen wurde, ist William Waltons „Der Bär“ im Januar 2022, wieder in der Regie von Sebastian Gühne.
- Besuchte Vorstellung: Fr 12.11., 19:30 Uhr, HMT Dittrichring 21, Blackbox, Raum -1.33 – Studioproduktion (Wiederaufnahme) – weitere Vorstellungen: 13., 14. und 15.11.2021 (Karten zu 7,50 €, ermäßigt 5,50 €, HMT-Studierende 2,50 €) / Nyman: „The Man Who Mistook His Wife for a Hat“ („Der Mann, der seine Frau für einen Hut hielt“), 1986 / Dr. S.: Paul Kmetsch – Dr. P.: Joan Vincent Hoppe – Mrs. P.: Johanna Ihrig – Inszenierung: Sebastian Gühne – Ausstattung: Claudia Weinhart – Musikalische Leitung und Klavier: Ulrich Pakusch – Musikalische Assistenz: Tsai-Ju Lee – Inspizienz: Sören Eggers – Beleuchtung: Holm Querner, André Thorhauer – Bühnenmalerin: Marie Krombach – Technische Leitung: Roland Bier / Projekt der Fachrichtung Klassischer Gesang/Musiktheater