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„One-desk-philosophy“ auf getrennten Wegen

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Auf der Suche nach neuen Profilen: Berliner Festwochen und Berliner Philharmoniker
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Soviel Neuanfang war selten: seit dieser Saison besitzt das Berliner Philharmonische Orchester einen neuen künstlerischen Leiter, einen neuen Intendanten, eine neue Rechtsform und einen neuen Namen. Ganz neu präsentieren sich auch die Berliner Festwochen, deren langjähriger Leiter Ulrich Eckhardt einem Team um Joachim Sartorius Platz machte. Es hätte also Anlass gegeben, diesen vielfachen Neubeginn festlich zu begehen, um gemeinsam Zeichen für die Zukunft zu setzen. Dies wäre um so mehr angebracht, als die (West-)Berliner Festwochen seit 1951 die Musik als ihr Zentrum begreifen und bislang aufs engste mit dem Berliner Philharmonischen Orchester zusammenarbeiteten. Nicht selten markierte das Eröffnungskonzert zugleich den Beginn der philharmonischen Saison, wobei das Orchester wesentliche Beiträge zu den Themenschwerpunkten der Festwochen leistete. Als besonders aufgeschlossen gegenüber solchen programmatischen Impulsen hatte sich zuletzt der mit Eckhardt befreundete Claudio Abbado gezeigt.

Soviel Neuanfang war selten: seit dieser Saison besitzt das Berliner Philharmonische Orchester einen neuen künstlerischen Leiter, einen neuen Intendanten, eine neue Rechtsform und einen neuen Namen. Ganz neu präsentieren sich auch die Berliner Festwochen, deren langjähriger Leiter Ulrich Eckhardt einem Team um Joachim Sartorius Platz machte. Es hätte also Anlass gegeben, diesen vielfachen Neubeginn festlich zu begehen, um gemeinsam Zeichen für die Zukunft zu setzen. Dies wäre um so mehr angebracht, als die (West-)Berliner Festwochen seit 1951 die Musik als ihr Zentrum begreifen und bislang aufs engste mit dem Berliner Philharmonischen Orchester zusammenarbeiteten. Nicht selten markierte das Eröffnungskonzert zugleich den Beginn der philharmonischen Saison, wobei das Orchester wesentliche Beiträge zu den Themenschwerpunkten der Festwochen leistete. Als besonders aufgeschlossen gegenüber solchen programmatischen Impulsen hatte sich zuletzt der mit Eckhardt befreundete Claudio Abbado gezeigt. In diesem Jahr ist alles anders. Die thematischen Schwerpunkte entfielen sowohl bei den Festwochen wie bei den Philharmonikern. Nicht nur gingen die früheren Partner getrennt an den Start – zum ersten Mal seit fünfzig Jahren fehlen die Philharmoniker sogar gänzlich im Programm der Festwochen. Wie der für die Musikprogramme dort jetzt verantwortliche André Hebbelinck erläutert, hatte es im Vorfeld positive Gespräche mit Simon Rattle und dem Orchester gegeben. Dann allerdings hätten die Intendanten Sartorius und Ohnesorg abgewunken und eine jeweils eigenständige Profilierung vorgezogen. Dies ist einigermaßen grotesk, da Festwochen wie Philharmoniker in diesem September gleichzeitig die Komponisten Thomas Adés, Mark-Antony Turnage und Olivier Messiaen vorstellen. Die Aufführungen folgen innerhalb weniger Tage in der gleichen Stadt, beide aus Bundesmitteln finanziert, aber in verschiedenen Programmen und ohne Querverbindungen.

Nach der langen und erfolgreichen Amtszeit Ulrich Eckhardts suchen die Festwochen nach einem neuen Profil. Wo es früher übergreifende Themenschwerpunkte gab, widmet man sich nun Einzelaspekten oder – ganz ähnlich wie Rattle – „einem Gefühl von Vitalität und Vielfalt“. Dazu Hebbelinck: „Man kann sich fragen, ob wir nicht zu eklektisch sind. Aber wir leben in einer eklektischen Zeit, unsere Musikkultur ist eklektisch.“ Wo früher die Philharmonie das Zentrum der Veranstaltungen bildete, werden diese nun über die ganze Stadt verteilt, um verschiedene Publikumsschichten zu erreichen. Erstreckten sich die Festwochen bislang auf einen Zeitraum von vier bis fünf Wochen, so wuchern sie nun über mehrere Monate. Wo früher der historische und geographische Standpunkt Berlins reflektiert wurde, siedelt man die Stadt nun in der angelsächsischen Welt an; bei der Pressekonferenz wimmelte es von Begriffen wie „Work in Progress“, „Count Down“, „Finish“, „Launch“, „DJ“ und „Home Stories“.

Anders als früher stellte nicht einmal mehr die Festwochen-Eröffnung – ein Gastspiel der Batsheva Dance Company in der zum Haus der Festspiele transformierten ehemaligen Freien Volksbühne – ein zentrales Ereignis dar. Wenige Tage später folgte als Berliner Erstaufführung Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Zündhölzern“ in der von den Salzburger Festspielen angereisten Produktion. Die konzertante Aufführung in der schwach besuchten Philharmonie, mit dem SWR-Orchester unter Sylvain Cambreling musikalisch grandios dargeboten, lebte vom Raumklang und rückte so das Werk stark in die Nähe von Luigi Nonos „Prometeo“. Von Wort und Szene befreit, wurde die Oper nun ebenfalls zu einer „Tragödie des Hörens“, deren politische Brisanz hinter surrenden, rauschenden und pfeifenden Geräuschen und Klängen verschwand.

Bislang hörte man in den Berliner Konzerten das Berliner Philharmonische Orchester, dagegen auf CDs deren personell identische Medientochter, die Berliner Philharmoniker. Unter Abbado hatten werkbezogene Ideen zur Programm-Identität beigetragen, während sich die Medien – wie zu Karajans Zeiten – gern dem Personenkult hingaben. Nach der Umwandlung des Orchesters in die Stiftung „Berliner Philharmoniker“ zog die Werbestrategie der Medientochter nun auch in die philharmonischen Konzerte ein. In der ganzen Stadt findet man derzeit Plakate mit dem Konterfei des grauhaarigen Briten und der Aufschrift „Welcome, Sir Simon“. Rund um die Philharmonie flattern farbige Fahnen mit der Aufschrift „A vision for music“, als sei ein neues Einkaufszentrum eröffnet worden.

Diesen Eindruck bestätigten beim Eröffnungskonzert zusätzliche Scheinwerfer im Innern, die deutliche Präsenz einer Plattenfirma, die allen eintreffenden Journalisten leuchtendrote Tüten überreichte, sowie die eiligen Umbauten an der Philharmonie. Während das Berliner Abgeordnetenhaus Hans Scharouns Visionen für das Kulturforum nun endlich realisieren möchte, werden im Philharmonie-Innern seine Absichten durchkreuzt; wo der Architekt den Konsum an den Rand des Foyers gelegt hatte, wurde nun eine große Bar ins Zentrum gestellt. Dies entspricht offenbar der „one-desk-philosophy“ des Intendanten Franz Xaver Ohnesorg, dessen strenges Regiment inzwischen nicht nur den Verband der Deutschen Konzertdirektionen irritiert. Das Eröffnungskonzert stellte er unter das Patronat der Deutschen Bank, der er auch im Programmheft reichlich Gelegenheit gab, sich als „global player“ zu präsentieren.

Wo früher das Eröffnungskonzert auf thematische Zusammenhänge einstimmte, fand nun ein Medienereignis statt. Wie die Festwochen lehnen sich auch die Philharmoniker, die sich ihre Stars aus London und Köln holten, an angelsächsische Vorbilder an. Gemeinsam mit Harald Schmidt, Alfred Biolek und Günther Jauch, neben britischen Journalisten und vielen Fernsehkameras konnte man an diesem Abend das Entstehen der neuesten Rattle-CD erleben, die schon Ende September ausgeliefert wird. Man hörte Mahlers fünfte Symphonie und vernahm sie bei aller orchestralen Brillanz doch nicht. Allenthalben wurden Details derart übertrieben, dass sie – ähnlich wie zuvor bei der geschmäcklerisch-rätselhaften „Asyla“-Satzfolge von Thomas Adés – den Blick aufs Werkganze verstellten und dessen tragische Dimension nicht einmal ahnen ließen. So ließ Rattle etwa im zweiten Satz die Celli die Überleitung zur Reprise durchweg im zartesten Pianissimo verhauchen, obwohl Mahler hier ein genau abgestuftes Decrescendo vorschreibt. Übertreibungen führten zur Verfälschung, wenn etwa im Scherzo das Solohorn ganz vorn aufgestellt wurde oder der Ländler sich zum schmissigen Walzer verwandelte. Gegenüber den sensiblen und wegweisenden Mahler-Interpretationen Abbados bedeutete dies einen bedauerlichen Rückschritt. Eingestimmt durch die im Programmheft wiederkehrende Formel „Welcome Sir Simon – welcome to the future“ und sein tiefschürfendes Bekenntnis „Ich liebe Musik, ich liebe, was ich tue“ jubelte das Publikum dennoch. Wer erinnerte sich noch daran, dass Sir Simon während der Vertragsverhandlungen erklärt hatte, man müsse sich zwischen Kunst und Kommerz entscheiden?

Zeitsprünge bei Festwochen

Die Festwochen geben sich seriöser und mutiger. Ihre bisherige Zusammenarbeit mit dem Philharmonischen Orchester ersetzten sie durch die mit dem Deutschen Symphonie-Orchester, dessen Chef Kent Nagano ebenfalls im Zentrum einer Werbekampagne steht (seine Biographie erschien jetzt zeitgleich mit der Simon Rattles). In der Programmdramaturgie Dieter Rexroths hatte das DSO schon in den vergangenen Jahren „Zeitsprünge“ mit erhellenden Gegenüberstellungen von Musik aus entfernten Epochen erprobt. Ähnlich stehen nun bei den Festwochen unter dem Titel „Zeitmaschine“ Johann Sebastian Bach, Orlandus Lassus und György Kurtag oder Brahms und Ligeti nebeneinander. Im ersten von drei Festwochen-Programmen stellte Nagano am 11. September Beethovens Neunter Symphonie Ligetis „Lux Aeterna“ und die minimalistische Symphonie Nr. 4 („Gebet“) von Galina Ustvolskaja voraus. So unterkühlt, distanziert und fremd hat man Beethovens Symphonie selten gehört. Vielleicht war dies Naganos Beitrag zu den New Yorker Ereignissen.

Anlässlich der unglücklichen Äußerungen Karlheinz Stockhausens zum Thema richten die Festwochen in sechs Konzerten die ungeteilte Aufmerksamkeit wieder auf den Komponisten Stockhausen. In denAusschnitten aus „LICHT“ fehlt deshalb der „FREITAG“, dessen Glutfinale die aktuellen Assoziationen ausgelöst hatte. Ebenfalls Bezüge auf die Metropole am Hudson-River gab es bei einem fünfteiligen Porträt des Komponisten Stefan Wolpe zu dessen 100. Geburtstag. In Zusammenarbeit mit der Wolpe Society und dem Konzerthaus Berlin beleuchteten einschlägig erfahrene Interpreten dessen Lebensstationen Berlin, Palästina und New York. Leider war für den beweglichen Witz und die komplexe Kontrapunktik seiner Kammeropern „Schöne Geschichten“ und „Zeus und Elida“ die hallige Akustik des Großen Konzerthaus-Saales denkbar ungeeignet, so daß die von Werner Herbers geleitete Ebony Band trotz Video-Einspielungen auf verlorenem Posten stand. Die bereits in den USA entstandene „Yigdal“-Kantate ersetzte der RIAS-Kammerchor wegen einer Erkrankung durch kürzere, teilweise schlichte Chorstücke, die Wolpes Wandlungsfähigkeit (besonders gelungen eine auf Guernica reagierende „Chinesische Grabschrift“) belegten. Zusammen mit dem Pianisten Michael Nündel und dem Schauspieler Götz Schulte hatte Stefanie Wüst ein überaus vielfältiges Lied-Programm aus den Jahren in Berlin und Palästina erarbeitet, die die spätere Isolation des Künstlers bedauern ließen.

Wie große Teile von Wolpes Musik erinnerte auch die gleichbleibend kleine Zuhörerschar an Zeiten, als Neue Musik noch eine Spezialisten-Angelegenheit war. Bisher ging das neue Festwochen-Konzept, anstelle des früher repräsentativen Publikums diverse Musikhörer-Szenen anzusprechen, noch nicht auf. Sogar bei Gerald Barrys Oper „The Triumph of Beauty and Deceit“, einem aktuellen Gegenstück zu Händels Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“, war das Haus der Berliner Festspiele nur zur Hälfte gefüllt. Dabei zielten die Sperma-Orgien und Geschlechtsverwandlungen, mit denen die grell infantile Inszenierung Nigel Lowerys das Stück vergewaltigte, direkt auf ein schwules Publikum. Thomas Adés, der die jetzige Aufführung als Fortsetzung seiner eigenen Fellatio-Oper „Powder Her Face“ ans Aldeburgh Festival geholt hatte, machte es am Pult der Birmingham Contemporary Music Group offenbar Spaß, die virtuos überdrehte Musik abspulen zu lassen.

Musikalische Weltgeschichte

Wenn auch Comic-Ereignisse wie diese Inszenierung der modernen Spaßkultur entsprechen, braucht man dafür doch weder Philharmoniker noch Festwochen. Wirklich glücklich machte mich bislang nur eine einzige Festwochen-Veranstaltung: das Debüt-Konzert des Atlas-Ensembles, in dem europäische Musiker mit Meistern ihres Instruments aus China, Aserbaidschan, Iran, Armenien und der Türkei zusammenspielten. Anders als beim üblichen „East meets West“ trafen sich hier ganze Instrumentenfamilien. So konnte man etwa Unterschiede der Lauten Ud, Pipa, Tar, Liquin und Mandoline sehen und hören, konnte den Gemeinsamkeiten der Oboeninstrumente Suona (China), Zuma (Türkei), Duduk (Armenien) mit der mitteleuropäischen Oboe nachgehen. Niemals zuvor hörte man in der Streichergruppe eines Orchesters neben Violine, Viola, Cello und Kontrabass auch Erhu, Kamancha und Kemençe, oder neben der Harfe die ihr verwandten Instrumente Kanun, Zheng und Santur. Die Initiative zu diesem einzigartigen Kammerorchester, die die musikalische Weltgeschichte in aufregender Weise in sich bündelt, ging auf Joël Bons, den musikalischen Leiter des Nieuw Ensemble Amsterdam, zurück. Zur Berliner Weltpremiere des Ensembles schufen Theo Loevendie (Niederlande), Fabio Nieder (Italien), Jai Daqun (China), Faradj Karajev (Usbekistan) und Guo Wenjing (China) neue Werke.

Karajew stellte in seinem Stück „Babylonturm“ mit Veränderungen und Überlagerungen die Verschiedenheit der Musiksprachen und die schon bei der Stimmung beginnenden Probleme ins Zentrum. Während Guo Wenjing in „Buddhist Temple“ von einem chinesischen Musikkonzept ausging, bemühten sich Fabio Nieder („The Waters flow in their Way“) und Theo Loevendie („Seyir“) um wirkliche Synthesen, wobei sie zugleich die Eigenständigkeit der häufig nur mündlich überlieferten Traditionen zu wahren suchten. Loevendie ließ erst die Kulturen in ihrer ganzen Differenziertheit wie Fremde aufeinanderstoßen, bevor er sie dann, ihrer Eigenheit entsprechend, in neue Kontexte einfügte. Das gemeinsame Lernen, sich Zuhören und Respektieren – eigentlich das, was Kultur ausmacht – wurde dabei zu einer aufregenden sinnlichen Erfahrung, zu einem ernsthaften Spaß, der Distanzen und Sprachen überbrückte. Trotz der unterschiedlichen Herkunft gelang hier die Kommunikation, die zwischen den Berliner Partnern Festwochen und Philharmonikern bislang noch ausblieb.

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