Der 2012 verstorbene portugiesische Komponist Emmanuel Nunes, der in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag hätte begehen können, hat es sich und seinen Zuschauern nie leicht gemacht, insbesondere wenn es um das Kunstwerk Oper geht. Seine bislang nur in Lissabon aufgeführte, über 30 Jahre hin entwickelte Goethe-Oper „Das Märchen“ hatte aufgrund der Dauer nicht nur die Zuschauer, sondern in ihren Ausmaßen auch die gigantischen Möglichkeiten des Teatro Nacional de São Carlos überfordert.
Mit dem Ergebnis der Uraufführungs-Produktion, die in 14 große Theater Portugals übertragen wurde, hatte sich der Komponist höchst unzufrieden gezeigt. Nach den das Theater räumlich schier sprengenden, ästhetisch an Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ gemahnenden Erfordernissen für eine sinnlich-spirituelle Klangwelt , über und hinter dem Zuschauer, mit vier- bis sechsfachem Holz und Blech, zwei Harfen und bis zu neunfachen Streichern, mit Fernorchester, Fernchor und IRCAM-Elektronik und einem aufgrund räumlicher Beschränkungen ebenfalls ausgelagerten Schlagwerkcorpus, hatte sich der Komponist für sein nachfolgendes Bühnenwerk selbst Beschränkungen auferlegt.
In „La Douce“ reduzierte er die Klangmassen auf ein Kammerensemble und Live-Elektronik. Dennoch erwies sich bei der deutschen Erstaufführung dieses Musiktheaters der gebotene Aufwand an Instrumentarium erneut als geradezu raumsprengend. Für die bislang vermutlich größtdimensionierte Produktion in der Werkstatt des Schillertheaters war es nötig, zwei Flöten, eine Oboe, zwei Bassklarinetten, ein Euphonium, ein präpariertes Klavier, Schlagwerk für drei Schlagzeuger (darunter Xylo- und Vibraphon), sowie einen Streicherapparat (Streichquartett plus Streichtrio) unterzubringen, wie auch die für den Boulez-Freund obligatorische Live-Elektronik mit insgesamt 3 MIDI-Keyboards auf Basis vorprogrammierter IRCAM-Elektronik.
Textvorlage der Oper „La Douce“ ist Fjodor Dostojewskis Erzählung „Die Sanfte“. Darin geht es um einen Pfandleiher, der eine junge Kundin zur Frau nimmt und sie anschließend, insbesondere durch sein Schweigen, unterdrückt. Obgleich der Mann am Ende noch bereit und gerade mit den Vorbereitungen beschäftigt ist, seiner Frau das Versprechen eines sorglosen Lebens am Meer einzulösen, stürzt sie sich, mit jener Ikone, durch die es zum Kontakt mit ihrem Mann gekommen war, aus dem Fenster.
Dostojewskis erzählerischen Monolog des Pfandleihers an ein unsichtbares Publikum hat der Komponist in seinem selbst verfassten Libretto in einen Dialog umgeformt, das Handlungspaar für zwei Sänger und zwei Schauspieler verdoppelt und dabei den Handlungsablauf erheblich aufgeplustert. So integrierte Nunes als Goethe-Freund etwa eine Diskussion über Mephistos Selbstdefinition („Ein Teil von jener Kraft…“) und dehnte die bei Dostojewski in dem Vorerlebnis des Pfandleihers, seiner unehrenhaften Entlassung aus der Armee wegen Feigheit, wie auch dessen abschließende Überlegungen nach dem Tod seiner Frau, über Gebühr aus.
Das Programmheft gibt als Aufführungsdauer 1 Stunde 50 Minuten, der Verlag Ricordi 120 Minuten an, doch die Berliner Aufführung blieb nicht im 2-Stunden-Rahmen.
Da bedurfte es einiger Einfälle des Regieteams um die Spannung des Abends halten zu können. Bühnenbildnerin Katharina Faltner hat eine fürs Publikum begehbare Raumlösung mit zwei Treppen, Emporen, dem Fenster mit der davor liegenden Straße, diversen Raum-Interieurs des Pfandleihers sowie einem mit Badewanne, Bett und Kochgelegenheit realistisch ausgestatteten Kasten als Einzimmerwohnung der Frau geschaffen. Ins Innere dieses Zimmers hat der Zuschauer von vorn durch eine Schaufensterfront, von oben sowie über Monitore, Einblick.
Regisseurin Anna Bergmann hat zu den beiden schauspielernden Doubles einen weiteren Darsteller (Uli Kirsch) hinzuerfunden, der als Crossdresser zunächst Putzfrau, dann Kamerafrau der Intimszenen und am Ende die lebendige Verkörperung der Madonna (Kostüme: Lane Schäfer) auf jener Ikone ist, deren Leihgabe die Beziehung zwischen dem 41-jährgen Pfandleiher und dem sechzehnjährigen Mädchen begründet hatte.
Abstraktion stößt hier auf Realismus, ein Labyrinth, welches die Frau gleich Ariadne aus roter Schnur in ihrer Behausung spannt, Kochvorgang und Essensgerüche, Wannenbäder, mal nackt, mal angezogen. Außer dem Bild der Live-Kamera auf diversen Monitoren, kann der Zuschauer seinen Blick auf ein vorproduziertes Video (impulskontrolle Sebastian Kircher) auf schwebendem Schleier lenken, der später zum Brautschleier der Zarten in Beziehung gesetzt wird.
Angesichts realistischer Darstellungen der psychologisch tief wurzelnden Handlung erscheint es – verstärkt noch durch die körperliche Nähe zum Publikum – problematisch, dass die singende Hauptdarstellerin, die vor ihrem Fenstersturz Seiten aus einem Buch reißt und zu Boden flattern lässt, sich sichtlich in anderen Umständen befindet: leistet dieser Eindruck doch der Fehldeutung Vorschub, die Frau sei von den heimlichen Treffen mit Jefimowitsch, dem Rivalen des Pfandleihers, schwanger und würde aufgrund ihrer Gravität freiwillig aus dem Leben scheiden.
Am Premierenabend wurde das Verständnis der Handlung durch die Tatsache der Erkrankung von Dénise Beck in der Titelpartie zusätzlich erschwert: nur stumm gestaltete die Sopranistin den Großteil ihrer Partie, ließ es sich jedoch nicht nehmen, ihre Abschieds-„Arie“, gegen Ende der Oper, selbst zu intonieren, während sie den Löwenanteil der Partie ihrer Kollegin Olivia Stahn überließ, die an einem Pult in der Mitte des Geschehens aus der Partitur sang. Bei einer so kurzfristigen Übernahme war die Textverständlichkeit der Gesangspartie zwangsläufig kaum gegeben, aber auch die textlichen Inhalte des Counters Zvi Emanuel-Marial waren zumeist unverständlich. Die 2009 in Porto uraufgeführte Oper von Emmanuel Nunes, der sein „Märchen“ in deutscher Sprache komponiert und zur Uraufführung gebracht hatte, erklingt bei der deutschen Erstaufführung in einer deutschsprachigen Fassung, für die Barbara Eckle und Martha Nunes verantwortlich zeichnen.
Deutlich verständlich ist der durch den Raum tigernde, per Mikroport verstärkte Sebastian Kuschmann als die schauspielerische Hemisphäre des Pfandleihers. Überzeugend auch Bea Brocks, die im schauspielerischen Teil der Titelrolle bisweilen parallel zum Gesang zu rezitieren hat („Und ich dachte, du würdest mich einfach so bleiben lassen!“).
Mit hoher Impressivität leitet Dirigent Titus Engel von einem Turm aus das atmosphärisch dichte musikalische Geschehen. Weniger dominant als zu erwarten, fällt der Einsatz der Elektronik aus und mischt sich optimal mit der Klangerzeugung der Mitglieder der Staatskapelle Berlin. Im Gedächtnis bleiben insbesondere die beiden expressiven Solo-Bratschen und ihre Dominanz bis ins Flageolett.
Dass am Premierenabend in der Ausführung der komplexen Stilistik von Emmanuel Nunes musikalisch einiges arg „klapperte“, fiel in der von Komponisten intendierten „emotionalen Unruhe des Schweigens“ weniger ins Gewicht.
Die Besucher, vor Beginn von Dramaturg Roman Reeger dazu aufgefordert, im Raum frei herumzuwandern und sich dabei immer wieder neue (Steh- und Sitz-)Plätze zu suchen, machten von diesem Angebot zusehends mehr und mehr Gebrauch. Am Ende feierten sie die Darstellerinnen und Vorstände einhellig mit freundlichem Beifall.
- Weitere Aufführungen: 20., 23., 24., 26., 27. und 29. November 2016.