Operette ist nach mehreren Fachtheorien ein unrealistischer Flirt mit Liebe, Luxus, Illusionen. Eskapismus gehört zu dieser Kunstform also unbedingt. In ihrer Lesart „Lisas Land des Lächelns“ an der Neuköllner Oper zeigen Abigél Varga und Elisabeth Pape jetzt , wie eine saubere und realitätsnahe Überschreibung der aus Tradition viel gescholtenen „Entsagungsoperette“ von Franz Lehár von 1929 aussieht. Das Publikum jubelte.
Operetten-Optimierung in Neukölln: „Lisas Land des Lächelns“ frisch, frei und sehr korrekt nach Lehár
„Chat-Inspizienz“ könnte bald ein neuer wichtiger Theaterberuf werden, wenn das Smartphone-Verhalten in die Inszenierungen schwappt wie jetzt auch im Operetten-Relaunch „Lisas Land des Lächelns“ der Neuköllner Oper unter der Produktionsdramaturgie des künstlerischen Leiters Bernhard Glocksin. Da werden viele Vorurteile der Boomer-Generation in Sachen Gen Z bestätigt – leider ziemlich humorfrei und leider nicht nicht mit den Waffen der Operette widerlegt.
Abigél Varga im musikalischen Arrangement und die Texterin Elisabeth Pape treten mit ihrer Vierpersonen-Fassung von Franz Lehárs großer Chor-Tanz-Entsagungsoperette „Das Land des Lächelns“ merkbar in die Fußstapfen des musikalischen Dramoletts von Peter Lund. Varga und Pape drehen den gesellschaftlich ambitionierten Kritik-Spieß einfach um und praktizieren also genau das, was U40 gern an anderen Personen und missliebigen Geistesschöpfungen schurigelt. Zum Beispiel kulturelle Aneignung: Im siebenköpfigen Orchester überlagern Lixue Lin-Siedler am Guzheng, einer chinesischen Zither, und Sabrina Ma am Vibraphon Lehárs freilich sehr europäisierte Pseudo-Chinoiserien für das 1929 im Berliner Metropoltheater uraufgeführte Bombast-Melodram. Das ist aber keine Rückführung, sondern vor allem laut. Wohlgemerkt dialektisch. Vom ursprünglich protosymphonischen wie verzärteltem Klangrausch Lehárs bleibt also wenig bis nichts. Außerdem ist die im Original patriarchalisch domestizierte und als „China Girl“ apostrophierte Prinzessin Mi durch Amputation ihrer zwei wesentlichen Gesangsnummern fast zur Gänze gesangstot. Ätsch!
Damit befindet sich das Überschreibungs-, Kreativ- und Operettenevolutionsteam der Neuköllner Oper in direkter dynastischer Abkunft des Operetten-Bashings von Seite derer, die sich ästhetisch-moralisch im Recht wähnen und gerne Mainstream-Erfolge abwatschen: „Das Land des Lächelns“ hat seit seiner Uraufführung 1929 eine lückenlose Erfolgsgeschichte als Kritikopfer: Von Lehár-Gegnern aus der Zwölfton-Moderne der Weimarer Republik sowieso. In West-Deutschland hielten Operetten-Gegner:innen den sprichwörtlichen Titel für gattungstypischen Ungeist und in der DDR war der Titel das Paradigma für „spätbürgerliche Dekadenz“ aus der „kapitalistischen Verblödungsindustrie“. Sogar Peter Konwitschnys Lächel-Finale beim „Immer nur lächeln“-Rausschmeißer in seiner „Land des Lächelns“-Inszenierung an der Komischen Oper 2007 gehörte zu den eher zahnlosen Arbeiten des dialektischen Regie-Imperators. Gewiss enthält „Das Land des Lächelns“ keine Emanzipation mit Alice-Schwarzer- oder Laurie-Penny-Appeal. Aber immerhin hat die adelige Protagonistin Lisa die Chuzpe, mit ihrer Strohfeuer-Liebe Prinz Sou-Chong aus Österreich nach China durchzubrennen. Trotzdem ist sie sich dort zu schade, um als exklusive Edelkonkubine mit viel Taschengeld, aber untergeordneter Position gegenüber den vier Sou-Chong aus Tradition zugeteilten Pflichtbräuten. Lisa entkommt (allerdings nur mit Hilfe ihres tollen Kumpels Gustl von Pottenstein) und endet, wie sich andeutet, in einer Ehe vom alten patriarchalen Schlag.
Gesungen wird in der Neuköllner Oper anständig. Vor allem aber wird das super gespielt, was vom großen Stück im kleinen WG-Ambiente übrig bleibt. Der dramaturgische Schrumpfungsprozess ist ähnlich radikal wie bei „Frau ohne Schatten“ im Herbst, aber da gelang das ideologische Optimieren etwas subtiler.
Die metropolitane Lisa kommt ins Ansgar Stephan Weigners Regie gar nicht so recht heraus aus ihrem in der Orchestermitte aufgestellten Jugendbett. Auf vielversprechende Tinder-„Matchs!“ mit dem chinesischen Gaststudenten Sou-Chong beginnt beider psychisch-physisches Techtel. Etwas hinderlich sind allerdings Lisas Wunschideen und vor allem ihre allzu rosaroten Peking-Visionen. Im Gegenzug genießt Sou Chong die zivilstaatliche Berliner Luft so lange, bis er in den patriarchal-ökonomisch-karrieristischen Mief seiner Heimat zurück muss. Demzufolge singen Marie Sofie Jacob und Nicholas Malakul ihre Partien mit noch nicht ganz erwachsenen Stimmen, denen man im kleinen Saal der Neuköllner Oper die vokale Lehár-Kraftpose natürlich erspart.
Auch hier gibt es für die beiden kein Happyend, wohl aber – anders als im Originaltextbuch von Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda – für Gustl und Mi. Das zweite Paar ist hier eindeutig das bessere Paar: Die beiden entschwirren durchaus beziehungswillig zu einem transatlantischen Pop-Festival. Vivian Yau ist als erotisch freizügige Figur Mi ein Ideal, Luca Schaub als Gustl ebenso. Fast Fetisch-Charakter hat der von Christian Robert Müller in sein Bühnenbild gesetzte Uralt-Herd Gustls, wie er schon lange in kaum einer WG mehr existiert und in dem Gustl viel Fleischernes, aber nix Veganes brät. Joker-Finale wird eine Dating-Show. Das neue „Land des Lächelns“ gibt sich also realistisch, ohne Illusionen und, wenn es um Gen Z geht, ziemlich desillusionierend. Über eine solche Produktion lässt sich nicht einmal spaßeshalber streiten, weil (fast) alles stimmt. Utopische Reibungen zwischen Theater und Realität sind so gut wie ausgeschlossen. Warum also das ganze Theater?
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