Russische Musik wegen des Ukrainekriegs von den Konzertprogrammen tilgen? Das Festspielhaus Baden-Baden und die Berliner Philharmoniker gingen bei den Osterfestspielen ganz bewusst einen anderen Weg und hielten am Russlandschwerpunkt fest. Gleichzeitig verurteilte man früh den Angriffskrieg Russlands, warnte vor Diskriminierung russischer Künstler und bat um Spenden für die Ukraine. Neben den beiden Tschaikowsky-Opern „Pique Dame“ (szenisch) und „Jolanthe“ (konzertant), in denen russische und ukrainische Künstlerinnen und Künstler miteinander arbeiteten, boten die Orchesterkonzerte unter anderem vier Ballettmusiken von Igor Strawinsky. Auch in zwölf der dreizehn Kammerkonzerte standen russische Komponisten auf dem Programm.
Sein achtes Streichquartett habe Dmitri Schostakowitsch 1960 unmittelbar nach dem erzwungenen Eintritt in die KPdSU komponiert, erklärt Bratschistin Julia Gartemann dem Publikum im Malersaal des Hotels Maison Messmer. Mit seinen in Töne gesetzten Initialen d-es-c-h, die das ganze Werk durchziehen, ist es Schostakowitschs persönlichstes Werk. Und erzählt viel von Gewalt, Trauer und Wut. Das nur aus Frauen bestehende Venus Ensemble widmet sich mit großer Hingabe, dunklem Tonfall und Mut zur Radikalität diesem Bekenntniswerk. Die im dreifachen Sforzato dreinfahrenden Akkorde im Allegro molto erschüttern wie Bombeneinschläge, die gehetzten Viertel wirken wie eine Panikattacke. Aber auch die klagenden Melodien der ersten Violine (Hande Küden) oder die tröstende Cellokantilene im Largo (Solène Kermarrec) gehen zu Herzen. Peter Tschaikowskys drittes Quartett in es-Moll erzählt ebenfalls von Trauer und Schmerz, nur auf eine viel verbindlichere, süßlichere Art und Weise. Johanna Pichlmair ist nun an der ersten Violine mit romantischem Ton zu hören, Rachel Schmidt bleibt als zweite Violine gemeinsam mit Bratschistin Julia Gartemann expressiv in den Mittelstimmen. Mit Sergej Prokofiews Quintett in g-Moll op. 39 für die ungewöhnliche Besetzung Oboe (Christoph Hartmann), Klarinette (Wenzel Fuchs), Violine (Luíz Filíp Coelho), Viola (Walter Küssner) und Kontrabass (Ulrich Wolff) findet sich auch beim Konzert des Ensembles Berlin im gut besuchten Weinbrennersaal des Kurhauses ein russisches Werk. Christoph Hartmann moderiert charmant das interessante Programm und erzählt von Prokofiews Umzug 1924 von Ettal nach Paris, wo dieses Quintett als Ballettmusik unter dem Titel „Trapez“ entstand. Zirkus ist das Thema der sechs Sätze – die waghalsigen Kunststücke der Akrobaten finden sich in den spektakulären Läufen der Instrumentalisten wieder.
Mit Anna Netrebko als Publikumsmagnet sollte eigentlich die bekannteste russische Künstlerin in einem Konzert präsentiert werden. Mit ihrer Absage kam sie einer Ausladung zuvor. Dass Intendant Benedikt Stampa bei seiner Begrüßung zu Beginn der Ersatz-Gala die Sängerin gar nicht erwähnt, der er das ausverkaufte Haus zu verdanken hat, mutet dann doch etwas seltsam an, zumal er das eigentlich wegen Netrebko gekommene Publikum für seine Treue lobt. Der von Andris Nelsons dirigierte Abend bietet ein buntes Opernprogramm zu den Themen Freiheitskampf und Vaterlandsliebe, aber auch Unpolitisches wie Richard Wagners „O du mein holder Abendstern“ (mit schöner Diktion: Thomas Hampson) oder die ganz textlose „Vocalise“ von Sergej Rachmaninow, veredelt von Katharina Konradi. Insgesamt fehlt der kurzfristig zusammengestellten Gala der dramaturgische und musikalische Zusammenhang. Auch Igor Strawinskys „Feuervogel“ mutet, wenn auch brillant musiziert, in diesem Zusammenhang etwas seltsam an. Spannenderes gibt es beim ebenfalls von Nelsons geleiteten Konzert am Samstagabend zu entdecken. Mieczyslaw Weinbergs ungewöhnliches Trompetenkonzert aus dem Jahr 1967 changiert zwischen Zirkuston und Klagegestus. Statt ausgreifender Melodien treffen im ersten Satz rhythmisch akzentuierte Motivschnipsel auf beruhigende Liegetöne. Der das Konzert eröffnende, vertrackte Trompetenaufgang wird mit der gleichen Energie vom Orchester wiederholt. Wie überhaupt der Dialog zwischen Solist und Tutti lebendig und ganz präzise bleibt. Solist Hakan Hardenberger besitzt einen glasklaren, schlackenlosen Trompetenton, mit dem er die Solostimme veredelt. Skurril dann das am Ende zerfallende, wie improvisiert wirkende Finale des Schostakowitsch-Freundes Weinberg mit „Carmen“-Anklängen und Hochzeitsmarsch-Parodie, dem sich eine farbintensive Version von Strawinskys Ballettmusik „Le Sacre du printemps“ anschließt. Der Orchesterklang hat Tiefe, Plastizität und in den Streichern eine selten zu hörende Homogenität. Und eine Durchsichtigkeit, die noch jedes kleine Kontrabassgrummeln und Piccolozirpen hörbar macht. Aber auch dem in der Musik enthaltenen Rausch und der Ekstase widmen sich die Berliner Philharmoniker mit größter Hingabe. Strawinsky at its best!