Der Coburger „Ring des Nibelungen“ schließt sich in nur 75 Kilometer Entfernung zu den Bayreuther Festspielen viereinhalb Jahre nach dem „Rheingold“-Start im September 2019. Eine außerordentliche Konstellation nicht nur durch den Wechsel auf ein Spartendirektionsmodell im Sommer 2023 während der Produktionszeit: Begonnen vor der Pandemie, fanden die ersten drei „Ring“-Teilstücke bis „Siegfried“ im historischen und jetzt wegen umfassender Sanierung geschlossenen Theater am Schlossplatz statt. „Götterdämmerung“ spielt man unter dem neuen Operndirektor Neil Barry Moss bis Mitte Juni 2024. Daniel Carter dirigierte mit Spannung. Irina Oknina (Brünnhilde), Gustavo López Manzitti (Siegfried) und Michael Lion (Hagen) gestalteten eindrucksvoll.
Packender Sog in die Vernichtung: Wagners „Götterdämmerung“ im Coburger GLOBE
Der vom Regisseur Alexander Müller-Elmau verantwortete Raum mit Eisentüren und ornamentierten Zugängen ist als Bunker, Museum und Depot im GLOBE weiter und trotzdem bedrückender als im Landestheater. Jetzt bedeckt dürres Laub den Boden, was Siegfried frustriert zusammenkehrt. Die Rheintöchter stehen in Vitrinen wie Puppen aus dem Urgeschichte-Museum, dazu Requisiten der bisherigen „Ring“-Handlung hinter Glas. Auch hier wird das Schwert Nothung zum Revolver, den Siegfried nach vollzogenem Betrug an Brünnhilde unentschlossen an seine Kehle richtet. Wagners poetische Ausflucht im letzten Tag seines bei den ersten Bayreuther Festspielen 1876 uraufgeführten Katastrophen-Vierteilers, das geschähe unter Drogeneinfluss, gilt nicht. Die orientierungslosen Menschen schmieden hier kurz gedachtes Glück und Desaster-Kettenreaktionen ganz ohne psychische Betäubung. Trotz akustischer Fülle des Philharmonischen Orchesters sind die Solostimmen sowie der als Arbeiter auftretende Chor und Extrachor – einstudiert von Alice Lapasin Zorzit – gut und deutlich zu hören, werden nie überflutet. Das kommt auch der Diktion zugute.
Wie in den ersten „Ring“-Teilen beobachtet eine kleine Menschen-Statisterie mit Gleichmut bis Gleichgültigkeit das schnöde Spiel von Untergang und Sinnverlust. Zu diesem ist Müller-Elmau viel eingefallen. Er verleugnet die Kenntnis einiger „Ring“-Regiemeilensteine der letzten Jahrzehnte nicht und denkt diese sinnfällig weiter. Vor allem aber hat er dem einsatzfreudigen Ensemble die Figuren mit ihren Extremen äußerst genau und hintergründig auf den Leib modelliert. Insbesondere Siegfried und Hagen, die irdischen Abkömmlinge außermenschlicher Habgier-Maximen, geraten hochspannend. Götterchef Wotan tritt höchstselbst an Siegfrieds Totenbahre.
Wenn Hagen Siegfried von vorn den Hirschfänger in die Flanke treibt, kommt das einer sinnlichen wie erlösenden Penetration gleich. Dafür bringt Alberich, der immer wieder aus dem Chor das Geschehen belauert, Hagen am Ende um. Alberich wiegt den Ring unschlüssig in seiner Hand und wirft ihn fast gleichgültig ins Publikum. Martin Trepl verkörpert dieses Outsider-Chamäleon herunter gedimmt und gerade deshalb schillernd, liefert eine distinguierte Hochleistung am Rande.
Immer wieder besticht das in matten bis düsteren Farben gehaltene Endspiel durch spannende Details. Siegfried braucht keinen Vergessenstrank, um Brünnhilde aus seinen grauen Zellen hinauszukicken. Die in knackiges Rot verpackte und auf Siegfried scharf gemachte Gutrune trinkt diesen selbst, gerät dann zum Klischee einer Sexbombe mit Zwecksteuerung. Sie ist das Dekadenzphänomen einer Gesellschaft ohne Götter. Kora Pavelić steigert den Waltraute-Monolog zur Minidrama-Insel und signalisiert, dass ihr die Krähen-Epauletten der Walküren-Uniform aus innerer Bedrängnis zu eng sind. Beim sehr ausdrucksstarken Disput zwischen Brünnhilde und Waltraute geht kurz der Ring im Herbstlaub verloren. Zur Brautgewinnung erscheinen Gunther und Siegfried gemeinsam – so spitzt sich die Infamie des Gestaltwandels noch mehr zu. Zur Hochzeit schleppt der Alkoholiker Gunther Brünnhilde mit Zwangsjacke, ihr Dilemma zwischen Begehren und Zweifel artikuliert Gutrune lebhaft und bejammernswert.
Müller-Elmau stellt Widersprüche der Siegfried- und Gibichungen-Sagen aus den verschiedenen mittelalterlichen Stoffsträngen plastisch gegeneinander. Auf Siegfrieds Mantel klebt in Schulternähe sogar das Kreuz, durch das die unverwundbare Stelle des ‚Helden‘ markiert ist. Die Nornen erscheinen in Daunendecken gegürtet wie vom Krankenlager. Brünnhilde gleicht mit langen offenen Haaren einem genetischen Relaunch der Rheintöchter auf höherer Evolutionsstufe. Als ramponierte Schaufensterpuppen stelzen die Rheintöchter zum Schlagabtausch mit dem immer müderen Siegfried und sind Gehandicapte wie die Nornen: Ioana Tautu, Emily Lorini und Rebecca Davis vereinen sich zum einen wie dem anderen Trio von Untergangsprophetinnen. Aufgescheuchte Krähenschwärme und nackte Baumstämme (Video: Niklas Zidarov) steigern den nebelnd apokalyptischen Sog, Julia Kaschlinskis Kostüme verdichten ihn mit der textilen Signifikanz eines ambitionierten Katastrophenfilms.
Deutlich wird: Der Riss zu den ethischen Wurzeln dieser Gesellschaft beschleunigt den Verfall. Und dieser ereignet sich in der tendenziellen Überakustik des GLOBE mit monumental kraftvoller Patina. Daniel Carter betont am Pult die starken chromatischen Reizungen, setzt auf das durchgängig expressiv grundierte Melos der vierstündigen Partitur. Die Bläser klingen über dem in Coburg zwangsläufig nicht sehr starken Streicherfundament beachtlich rund.
Die fast zur Gänze aus dem eigenen Ensemble kommende Besetzung schlägt sich imponierend – mit vollem Einsatz, prachtvoller Kondition und starken Persönlichkeiten. Mühelos entwickelt Irina Oknina als Brünnhilde die zahlreichen Höhenspitzen aus dem vokalen Fluss und einem bemerkenswert warmem Timbre. Keinen Zweifel lässt sie daran, dass Brünnhilde trotz dynamitöser Rache-Tiraden die Integerste in Wagners Figurenarsenal ist. Lars Fosser versteckt die Schwäche Gunthers hinter baritonaler Kraft, Ana Naqe ist eine Gutrune auf ebenbürtigem Energieniveau und beeindruckender Präsenz.
Höhepunkt des Abends trotzdem: Das mit Intensität auf gleichwertiger Höhe anpackende Gegner-Tandem von Gustavo López Manzitti als Siegfried und Michael Lion als Hagen. Müller-Elmau gewährt ihnen echte Größe im beidseitigen Verlieren. Auch so kann man Wagner singen: Manzitti und Lion demonstrieren intensive Charakterstimmen mit einem gigantischen Willen zum Ausdruck, inhaltlicher Durchdringung und dabei leisen Gesten. So entsteht an einem mittelgroßen Haus mit langfristig bewahrter Zielgerade und starker Wirkung eine „Ring“-Interpretation, welche neben dem beeindruckend visualisierten Untergang auch Wagners vielschichtigen Fragen nach der Bedingtheit von Anlass und Wirkung spannend und packend nachgeht. Ein überregional neugieriges Publikum reagierte mit Begeisterung.
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