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Playing Animal Farm. Foto: © Candy Welz
Playing Animal Farm. Foto: © Candy Welz
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Passion:SPIEL in Weimar mit interaktiven Theaterspäßen: The Animal Farm 2023!

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Zu „Pop und Spiele“ ruft die zweite Ausgabe des Festivals Passion:SPIEL des Deutschen Nationaltheaters Weimar im e-werk. Composer in residence ist der bisherige Münchner-Biennale-Leiter Manos Tsangaris. Musiktheater-Dramaturg Michael Höppner und Operndirektorin Andrea Moses kuratieren das Festival für neue Spielformen. Trotz der frostigen Temperaturen am Eröffnungstag geht es beim „populären Schauplatz für aktuelles Musiktheater“ bis zum 6. Mai recht heiß her.

Sie brauchen kein Marketing-Vokabeln wie das andere mit dem Populären flirtende Neue-Musiktheater-Festival „Schall und Rausch“ in Berlin. Denn bei „Pop und Spiele“ geht es durch die Bank um Stücke, die an einer zeitlos abgefahrenen Location wie dem Weimarer e-werk zu besserer Wirkung kommen als in Rang- und Hufeisentheatern oder in Kulturbauten mit regulären Foyer-Zuschauerraum-Definitionen. Das begann mit dem Chorprojekt „Singen wir aus Herzensgrund“ als recht eigenwilliger Pilgerreise des Weimarer Opernchors mit Andrea Moses untermusikalischer Leitung von Jens Petereit durch die Choral-Landschaften von Bach und Kagel zum physisch ausgeschilderten „Herzensgrund“

Im Maschinensaal des e-werks hat Aurel Lenfert einen Bretterboden gelegt. Dieser bietet ein renaturierendes Scheunen-Flair mit Effekt-Möglichkeiten. Zum Beispiel kann man durch die Balkenritzen leichten Nebel steigen und damit die Spannung dezent hochköcheln lassen, während sich das Publikum mit den Darstellern mischt und auf den Zuschauerstufen Platz nimmt. Die Auswahl der Stücke, auch der Gastensembles – zum Beispiel mit der wahrscheinlich allerersten Radfahroper „Ringding“ und Manos Tsangaris’ Speed-Dating „Love and Diversity“ – haben einiges gemeinsam: Vom Publikum wird neben der für dieses Genre unerlässlichen geistigen auch physische Mobilität erwartet. Hinsetzen und genießen geht zwar. Wer aber seinen Platz selbst sucht und im Dargebotenen neben dem diesmal garantierten Spaß auch etwas Sinn findet, hat mehr davon.

Die meisten Projekte sind so interaktiv, dass auch für die Mitwirkenden die Grenzen zwischen den Kategorien Schlussprobe und sogenannten Premiere verschwimmen. Es geht weniger um artistische Perfektion als um Pannen-Kompetenz, wenn etwas im Ablauf von Aufmarsch, Aktion und sportlichen Spielen im performativen Spielepluralismus klemmen sollte. So bei der Uraufführung von „Playing Animal Farm“ von Philip Venables. Meistens geht alles gut, denn das Team ist auch durch die hypertheatralen Projekte des Kunstfestes Weimar souverän im Umgang mit unerwarteten Herausforderungen und unvorhersehbaren Zwischenfällen. Das e-werk ist eine lebendigsten Spielstätten Deutschlands – man sollte es mindestens einmal erlebt haben, am besten mit Party post theatrum.

Bekannt wurde der für Abgründiges als Sujets bevorzugende Brite Venables hierzulande vor allem durch die Erstaufführung seiner Sarah-Kane-Vertonung „4.48 Psychosis“ im Semper 2 der Sächsischen Staatsoper. Bei aller Britpop-Verspieltheit hat das von Anna Weber und Philipp Amelungsen entwickelte „Rollenspiel zum Mitmachen“ mit Venables’ „Game Show Music“ seine bei diesem Komponisten fest einplanbaren perfiden Seiten. Am längsten darf die Kombo aus der Staatskapelle Weimar auf ihren Plätzen sitzenbleiben. Sie liefert unter dem jungen Kapellmeister Friedrich Praetorius die burlesken Sounds, welche bei Venables natürlich auch Gänsehaut-Momente einschließen.

Wissen sollten Besuchende der Folgevorstellungen nur, dass die Plätze mit der besten Sicht direkt hinterm Futtertrog sind. Alles andere bleibt flexibel und die Zusammensetzung der Teams verhandelbar. Für die Fülle sorgten bei der Generalprobe einige Schulklassen. Unter Anleitung der Rudel-, Herden- und Scharführer durfte man anpacken beim Verstellen der Zäune, den Parcours zum Fressen folgen und zudem kräftig mitrufen bei den aus George Orwells Parabel bekannten Parolen von der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aller Tiere. In einer Gruppe ist man stark – wird zu Schaf, Huhn, Pferd oder Kuh. „Playing Animal Farm“ beginnt da, wo Orwell endet. Die Schweine haben die Macht, sind den Menschen bereits recht ähnlich. Die Krähe entsendet Parolen. Mit Wettspielen rüsten sich die Tiere zur revolutionären Erhebung gegen die Schweine, die sich bei einer Modenschau gegen Ende in aller Pracht zeigen. Spontanen Applaus gibt es für die Muster-Henne, die noch schnell ein Riesenei legt.

Bei der flockigen Moderation, den toll gestalteten Kostümen und den wenigen wie witzigen Spielanleitungen gerät das Spiel zum kurzweiligen Spaß bis zur Schweinerüssel-Larve auf der Dirigentennase. Da schwant deutlich, was die Aufgabe eines Musiktheaters der Zukunft sein kann: Rituelles Gruppenbesinnen auf die Kalamitäten dieser Welt, Innehalten und naives Abreagieren mit Niveau. Musik spielt zwar eine wesentliche Rolle, aber eher in der zweiten Bedeutungspriorität. Die vom Ensemble auf’s Publikum erweiterte Passion:SPIEL erweist sich dabei als gewitzter Kommunikationsanlass. Es geht ja längst nicht mehr ausschließlich ums gepflegte, gelangweilte oder gequälte Absitzen von Vorstellungs- und Stückeinheiten. Da zeichnet sich bei dem jungen Weimarer Festival nach der ersten Runde mit klein besetzbaren Kammeropern eine Vertiefung, Verdichtung und Erweiterung ab zu interaktiven, den Sparten-Begriff erweiternden Formaten, welche den Umgang mit sog. Neuer Musik fröhlich entkrampfen. Das Wort „Spieloper“ in einer neuen und dabei gewitzten Dimension.

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