Emmerich Kálmáns „Die Zirkusprinzessin“ an der Komischen Oper Berlin. Bei den vorweihnachtlichen Kálmán-Operetten in konzertanter bis dreiviertel-szenischer Manier pflegt die Komische Oper Berlin die eigene Operetten-Sängerriege jeweils mit einer medialen Größe aufzuwerten, sei es mit einer TV-Kommissarin oder einem Pop-Star. Für Emmerich Kálmáns „Die Zirkusprinzessin“ machte Barrie Koskie aus dem Zirkusdirektor Schlumberger eine Zirkusdirektorin und griff zu einer gleichermaßen Dschungel(camp)- wie (Praunheim-)Film-erfahrenen Diseuse.
Die mit Vagina-Monologen wie katholischer Theologie-Vermittlung bewährte Désirée Nick macht vor dem direkten Dialog mit dem Publikum nicht Halt: „In der Mitte der ersten Reihe sitzen und dann nicht denken, dass man auch dran kommt. Sag mal, warst du auf der Waldorfschule?“ Basierend darauf, dass auch ein Zirkusdirektor als Conferencier das Publikum bei den Vorstellungen durchs Programm führt, verhindert sie, mal in berlinerischem, mal (nicht ganz so gekonnt) in wienerischem Idiom, schnoddrig, dass „Sie mit dem Libretto von Emmerich Kálmán intellektuell überfordert sind“.
Die Geschichte von Julius Brammer und Alfred Grünwald mischt aristokratisches und zirzensisches Ambiente: Prinz Sergius Vladimir (Ivan Turšić, mit deutlich artikuliertem Operetten-Spechgesang) rächt sich für eine Zurückweisung durch die schöne Witwe Fedora Palsinska (Alexandra Reinrecht mit dramatischen, nicht immer runden Tönen), indem er sie mit dem Zirkuskünstler Mister X als vorgeblichem Prinzen verkuppelt; er stellt sie dann als Zirkusprinzessin öffentlich bloß, weiß aber nicht, dass Mister X selbst ein enterbter Fürstenspross ist, – und das Happy End der vordem in St. Petersburg spielenden Geschichte bleibt im Wiener Schlussakt nicht aus.
Die auch gerne im Circus, zuletzt bei Krone in München, realisierte Operette entbehrt in Berlin außer Showlicht und Kostümfummeln von Katrin Kath der zirzensischen Effekte. Sie setzt allein auf die Kraft von Kálmáns weltberühmt gewordenen Ohrwürmern, wie „Zwei Märchenaugen“, „Wenn du mich sitzen lässt, fahr’ ich sofort nach Budapest“ oder „Die kleinen Mäderln im Trikot“. Der langjährige Essener Opernchef Stefan Soltesz leitet das auf die Bühne platzierte Orchester der Komischen Oper rasant, aber mit ungarischer Lässigkeit.
In der szenisch von Barrie Kosky, textlich von Ulrich Lenz und Désirée Nick eingerichteten Fassung kommen die erklingenden Musiknummern an Umfang kaum hinaus über das, was man früher auf Langspielplatte als einen „großen Querschnitt“ zu bezeichnen pflegte. Außer dem von David Cavelius einstudierten, diesmal tatsächlich konzertant bleibenden Chor, ist das Operettenpersonal neben den bereits erwähnten Sängerdarsteller*innen reduziert auf das Buffopaar Peter Renz und Julia Giebel. Tenor Zoltán Nyári ist mit und ohne incognitiver Glitzermaske ein kraftvoll, heldisch stemmender Mister X, der auch ohne artistische Kunststücke die in ihn gesetzten Erwartungen voll erfüllt.
Auch die Diseuse darf zeigen, dass sie Töne produzieren kann – und so gibt Désirée Nick die Nummer der Adele aus dem dritten Akt von Johann Strauß’ „Die Fledermaus“ zum besten – mit verpeilten Tönen á la Florence Forster-Jenkins. Über diese schräge Einlage, die laut Nicks Bekenntnis „bereits im 19. Jahrhundert für mich komponiert wurde“, tobt das Haus mit frenetischem Beifall mehr als über die gesanglich korrekteren Leistungen der anderen Protagonisten.
Premierenapplaus-Verlängerung macht derzeit Schule an Berliner Opernhäusern. Nach Daniel Barenboim nun auch Barrie Kosky: als der Applaus bereits beendet war und die ersten Zuschauer den Saal verlassen hatten, kam der Intendant auf die Bühne und bat verbaliter erneut um Applaus für sein Ensemble. Sodann forderte der Hausherr auch Applaus als Totengedenken für die jüngst verstorbenen Künstler Kurt Masur und Stella Doufexis, die lange Jahre an der Komischen Oper Berlin tätig waren. Der Intendant verkündete aber auch, dass es im fünften Jahr seiner Intendanz im Rahmen der alljährlichen Vorweihnachts-Kálmán-Operetten als europäische Erstaufführung die 1945 für den Broadway komponierte „Marinka“ geben werde.
- Nächste Aufführung: 30. Dezember 2015.
- Ausstrahlung in Deutschlandradio Kultur am 31. Dezember um 20:03 Uhr.