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Ananas satt. Ein glücklicher Moment für Olim (Patrick Zielke, hinten) und Severin (Christopher Giffey). Foto: Christian Kleiner.

Ananas satt. Ein glücklicher Moment für Olim (Patrick Zielke, hinten) und Severin (Christopher Giffey). Foto: Christian Kleiner. 

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Poesie in der Stunde der Not. Kurt Weills und Georg Kaisers „Der Silbersee. Ein Wintermärchen“ am Nationaltheater Mannheim

Vorspann / Teaser

Ende Oktober meldete das Nationaltheater Mannheim, die geplante szenische Premiere von Antonio Vivaldis Oratorium „Juditha triumphans“ sei abgesagt, und man habe stattdessen Kurt Weills „Silbersee“ auf den Spielplan gesetzt. Die Begründung: „Der Opernleitung des NTM um Intendant Albrecht Puhlmann erschien im Gefüge des Spielplans die Wiederentdeckung von Kurt Weills Bühnenspiel über die Bedeutung von Freundschaft im Angesicht gesellschaftlicher Zerfallsprozesse das passendere Stück für die Alte Schildkrötfabrik.“

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Die Absage ist nachvollziehbar: Angesichts der Eskalation im Nahen Osten hätte die alttestamentarische Erzählung von der mutigen Hebräerin Judith, die dem assyrischen Feldherrn Holofernes den Kopf abschlägt, viel Aufregung und wenig Erkenntnis produziert. Eine Herausforderung bleibt die Entscheidung dennoch: Kurt Weills und Georg Kaisers als „Wintermärchen“ untertitelter „Silbersee“ ist ein Zwischengattungsstück wie Henry Purcells (viel ältere) Semi-Opern, dazu ein Zeitstück, in dem sich zahlreiche politische Anspielungen auf die Situation vor Hitlers Machtübernahme vom 30.1.1933 verstecken, und es kommt deutlich ernsthafter, melancholischer und weniger bissig daher als die die populäre „Dreigroschenoper“, mit der es gerne verglichen wird, sobald sich jemand an eine Aufführung wagt.

Ausgerechnet dieses Stückes hat sich nun der bekannte und lange als Skandalregisseur verschrieene Theatermann Calixto Bieito angenommen – und das mit der Folge, dass binnen kurzer Zeit sämtliche Vorstellungen nahezu ausverkauft sind. Die Alte Schildkrötfabrik mit circa 320 verfügbaren Plätzen ist eine der Ersatzspielstätten für den Theaterbau am Goetheplatz, der bis 2028 einer aufwändigen Generalsanierung unterzogen wird. Präzise gesprochen handelt es sich bei dem Alternativ-Standort um die ehemalige Heizzentrale der einstigen Schildkröt AG, vormals Rheinische Gummi- und Celloloid-Fabrik, die sich vor allem durch ihre Puppenherstellung einen Namen gemacht hat. 1975 wurde die Puppenproduktion in Mannheim aufgegeben und 1988 das weitläufige Werksgelände mit etwa 200 Gebäuden fast komplett niedergelegt. Die übrig gebliebene Halle steht nun in einer trostlosen urbanen Wüste zwischen Großmärkten, Gewerbeflächen, Parkplätzen und innerstädtischen Schnellstraßen; sie ist zudem schlecht ausgeschildert und schlecht an den örtlichen Nahverkehr angebunden.

Dabei hat die Spielstätte als solche durchaus Atmosphäre. Die langgestreckte Haupthalle mit ihren Rundbogenfenstern wirkt wie eine lichte, frühmittelalterliche Basilika. Aufwändige Bühnenbauten wie die Landschaft am titelgebenden Silbersee oder das märchenhafte Schloss des 3. Aktes lassen sich hier nicht realisieren. Bühnenbildnerin Anna-Sofia Kirsch hat einen langen breiten Steg in die Mitte gelegt, an dessen Seiten jeweils fünfreihige Zuschauertribünen mit kleineren seitlichen Aussparungen aufgebaut sind. Das Orchester sitzt vorne links am Eingang. Längere Schauspiel-Passagen wirken hier nicht. Calixto Bieito und Nationaltheater-Dramaturg Xavier Zuber haben ihrer Spielfassung einerseits Georg Kaisers lange und teilweise pointierte Dialoge radikal auf wenige zentrale oder stichwortgebende Sätze zusammengestrichen, andererseits mit anscheinend lockerer Hand den einen oder anderen Übergang erfunden und manchmal auch den Originaltext leicht abgeändert: So wird aus dem „dicken Landjäger“ des Originals aktuell ein schlichter Polizist (Marcel Brunner), und aus der „Eisenbahn“, die er in dieser Rolle als „Beispiel eines unpolitischen Instruments“ zitiert, die über Jahrzehnte inzwischen viel stärker verbreitete und bezuschusste „Autobahn“.

An drei passenden Stellen hat das Regieteam zusätzliche Weill-Songs eingefügt. Damit entsteht eine Art Singspiel (oder „Songspiel“, wenn man so will.) Auf dem Hintergrund, dass „Der Silbersee“ nach der dreifachen Uraufführung am 18.2.1933 in Leipzig, Magdeburg und Erfurt aus politischen Gründen schnell vom Spielplan verschwand und Weill als Bühnenkomponist recht pragmatisch mit der Gestalt seiner Bühnenwerke umging, kann man spekulieren, dass ihm diese Mannheimer Fassung als Wiederaufführung durchaus recht gewesen wäre. Dass sie für das Publikum funktioniert, und dass vor allem der wichtigen Faden der Handlung nicht reißt, verdankt sich ein wenig der kompakten Inhaltsangabe im Programmheft, vor allem aber der szenischen Fantasie der Regie und der Hingabe des Ensembles. Gerade in musikalischer Hinsicht hat das gewählte Szenario allerdings Nachteile. Dass sämtliche Stimmen über Mikroports verstärkt werden, ist unter den akustischen Verhältnissen nachvollziehbar; leider wirken die Singstimmen oft zu laut für Feinheiten der Orchesterpartitur, und die Textverständlichkeit schwankt. Ab und an führt die Entfernung der Darsteller zum Orchester zu rhythmischen Verschiebungen. Und eingangs geht der ganze erste Teil der nervösen, fast gehetzt wirkenden Ouvertüre über dem Gerenne der Darsteller und dem Gerolle zahlreicher Mülltonnen unter. Das ist schade, denn der operetten- und musicalerfahrene Gastdirigent Jürgen Goriup am Pult des Nationaltheater-Orchesters hat eine glückliche Hand für die Nuancen der zwischen Sinfonik, Operette, Jazz und Weill’schem Songstil changierenden Partitur.

Szenisch geben die lärmenden Mülltonnen ein ausgesprochen eindrucksvolles, bedrückendes Bild von dem Milieu, in dem das Stück beginnt. Obdachlose am Ufer des Silbersees versuchen zunächst vergeblich, ihren Hunger symbolisch zu begraben. Sie überfallen dann ein Lebensmittelgeschäft und rauben es aus. Severin, der Anführer, schnappt sich allerdings nur eine Ananas. Gerade er wird auf der Flucht von Olim, dem zweiten Polizisten angeschossen und erwischt. Olim, der den Fall für die Akten protokollieren muss, kommt ins Grübeln über die Not der Obdachlosen und seine Rolle in dem Fall. Als es ihm ein beachtlicher Lotteriegewinn erlaubt, den Dienst zu quittieren, kauft er ein Schloss, befreit den Delinquenten aus der Krankenstation der Untersuchungshaft und lässt ihn gesundpflegen. (Niklas Mayer als Lotterieagent darf nicht nur seinen melancholischen Tango zum Lobe des Großen Geldes singen, sondern fungiert vor allem ersten Teil auch als eine Art Stichwortgeber und zynischer Conferencier.) Dem Gewinner Olim wird zum Verhängnis, dass er eine intrigante verarmte Adlige als Wirtschafterin einstellt, dass der weiter hinkende Severin Rachegedanken ausbrütet und dass schließlich herauskommt, dass der Schütze Olim und der Wohltäter Olim ein und dieselbe Person sind.

Patrick Zielke wirft sich mit Leib und Seele in die letztgenannte Rolle und verlieht ihr eine interessante Persönlichkeit. Sein Olim hat Sinn für Kameradschaft; er singt mit seinem Polizistenkollegen sogar den Kanonen-Song aus der „Dreigroschenoper“. Er hält ihn aber auch davon ab, gegen eine Frau übergriffig zu werden, die einer der Mülltonnen steckte. (Dabei war es gar keine Angehörige der Obdachlosen-Bande, sondern einer der beraubten Verkäuferinnen.) Er ist erst irritiert, dann zunehmend nachdenklich, als der aus sämtlichen Darstellern zusammengesetzte Chor ihm aus allen Winkeln des Raumes ins Gewissen dringt. Später schiebt er den verletzten Severin übermütig tänzelnd durch die Gegend, während er ihm singend die Vollpension im Schloss ausmalt. Zu Severins Aufmunterung trägt er gekonnt den „Bilbao-Song“ aus Weills „Happy End“ vor. Olims peinliche Schlossherrn-Begegnung mit seinem Ex-Kollegen von der Polizei zelebriert Zielke mit wunderbarer Verlegenheit. Mit dem rachsüchtigen Severin wälzt er sich ringend über die Bühne, duckt sich später ängstlichst in seinem Versteck und entschließt sich dann doch zu Ehrlichkeit und Aufeinanderzugehen. Christopher Diffey als Darsteller des Severin hat weniger Gelegenheit zu Zwischentönen; aber auch seine Rolle erweist sich als vielschichtig. Dass sich der zürnende Rekonvaleszent von seinen Obdachlosen-Kameraden anketten lässt, um nicht seinen Rachefantasien zu erliegen, wird szenisch leider nicht wirklich deutlich. Dass er sich dabei auf Homers „Odyssee“ beruft, in der der Titelheld sich an den Schiffsmast kettet, um nicht dem Klang der Sirenen zu erliegen, beweist Severins Bildungshorizont.

Zwischen beiden Männern steht als rätselhafte Figur Fennimore, eindrucksvoll verkörpert von Mirella Hagen. Eingeführt wird sie als Nichte der Hausverwalterin Frau von Luber. In deren Auftrag soll sie Olim in eine Affäre verwickeln und ihm sein Geheimnis entlocken. Ihr Auftrittslied „Ich bin eine arme Verwandte“ deutet in Richtung sentimentale Operette, doch als Ständchen zum Abendessen singt sie die bitter-ironische Ballade „Cäsars Tod“ – damals eine Anspielung auf die drohende Diktatur. Bieito holt die Hitler-Anspielung ein Stück weit ins Allgemeine zurück, indem er Fennimore mit einer Rohrzange auf einen Stahlhelm einschlagen lässt. Nachdem das Lied aber nur Severins Zorn angeregt hat, will Fennimore noch einen vergnügten Tanz zum Besten geben – eigentlich mit zwei Brötchen wie in Charlie Chaplins Film „Goldrausch“. In Mannheim macht sie daraus einen vergnügten Gemeinschaftstanz, in den sie auch den humpelnden Severin einzubeziehen sucht. Hier und immer wieder zeigt sich eine musikalische Qualität der Inszenierung: Sie nimmt den Bewegungsimpuls von Weills Musik ernst, der sich immer wieder ins Körperliche übersetzt. (Das Programmheft zitiert dazu Weills Aufsatz „Über den gestischen Charakter der Musik“.) Mirella Hagen wirkt hier aktuell wie eine begabte, aber leider stellungslose Sozialpädagogin in Zeiten defizitärer Staatsfinanzen. Dass Fennimore gegen Frau von Luber (Rita Kapfhammer) und ihren Galan Baron Laur (Uwe Eikötter) aufbegehrt, die Olim und Severin gegeneinander ausspielen wollen, muss sie büßen. Der ihr abgenötigte Totentanz gerät zum hilflosen Taumel unter körperlicher Misshandlung, und sie wird mit den beiden Männern aus dem Schloss geworfen. Von Luber und Laur triumphieren: Jetzt kehrt das Schlaraffenland für die Reichen zurück, und von einer Zeitenwende ist nicht mehr die Rede. 1933 war das zurück in den autoritären Staat gemeint. Calixto Bieito zielt aktuell eher auf die Verkehrswende – zurück zur freien Fahrt für freie Bürger, weg von linksgrüner Bevormundung! Luber und Laur markieren schon einmal genussvoll den Mittelstreifen für die geplante neue Autobahn.

1932/33, in der Stunde der Ohnmacht, setzten Kurt Weill und sein Librettist Georg Kaiser auf die Macht der Poesie – womöglich im Anschluss an Joseph von Eichendorffs Gedicht; „Schläft ein Lied in allen Dingen / Die da träumen fort und fort / Und die Welt hebt an zu singen / Triffst du nur das Zauberwort.“ Das beginnt schon bei Severin, den die Ananas als „Frucht aus Fabelland“ fasziniert, als habe er gerade Friedrich Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands“ gelesen. Es geht weiter, als Fennimore Olim von den besonderen Eigenschaften des Silbersees berichtet. Sie singt mit ihm eine Art verhindertes Liebesduett, bei dem die beiden Gesangslinien sich gegenseitig imitieren, aber an keiner Stelle ineinander verschlingen. (Anrührend spielt Mirella Hagen hier die zarten Höhen ihrer Sopranstimme aus.) Am Ende ist es im Original Fennimores Lied, das die beiden Männer begleitet; Bieito liest zwischen den Zeilen und lässt die junge Frau auch als Person mitgehen. Severin und Olim zieht es zum Silbersee, und die beiden formulieren auf dem Weg einen Satz, den das Regieteam mit Bedacht im Textbuch gelassen hat: „Zorn und Angst, das sind die beiden Leidenschaften, die das Elend anrichten. Der Zorn greift an, die Angst flüchtet. Der Mensch soll aber weder angreifen noch flüchten. Er soll sich auf halbem Wege begegnen und auf glatter Ebene nebeneinander hinschreiten...“ „Wohin – in den glitschigen Straßengraben“, kommentiert Olim selbstironisch.

Mühsam arbeiten sich die Vertriebenen voran. Da die alten Obdachlosenquartiere zerstört sind, möchten sie ihrem Leben im Wasser ein Ende setzen. Doch es beginnt zu schneien und zu klingen. „Hörst Du es auch?“ „Millionen machen Musik!“, „Die Wasser singen! Hörst Du es nicht?“ Bieito inszeniert diesen Schluss ohne jeden Anflug von Hektik; das Publikum folgt den Figuren auf der Bühne und nimmt die freundlich-lichten Klänge wahr, die erst vom Orchester, dann vom Chor kommen. Was dieser singt, ist Zuspruch und Anspruch zugleich: „Euch entlässt die Verpflichtung, weiter zu leben noch nicht. (...) Ihr entstiegt schon dem Grauen, das noch die Schöpfung durchbricht (...) Berge werden sich glätten, wie dieses Wasser gerann, um euren Fortschritt zu retten, der hier vom Ufer begann.“ Severins Verband ist abgefallen, er kann wieder gehen, und das Trio stellt verblüfft fest: Der See ist zugefroren und man kann über die Eisdecke schreiten. An der bislang noch ungenutzten Rückwand der Halle sehen wir zwei historisch wirkende Videostreifen: Der eine zeigt Menschen auf den verschneiten Straßen New Yorks, der andere eine Eiskunstläuferin auf gefrorenem See in freier Natur. Olim, Severin und Fennimore verlassen die Halle über den bislang unbemerkten Seitenausgang. Draußen fährt ein Taxi vor.

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