Body
Musiknachrichten aus der Bundeshauptstadt: Das Berliner Philharmonische Orchester hat einen Souvenirladen eröffnet. Dort kann der musikalische Souvenirjäger “Erinnerungsstü-cke von einem der besten Orchester der Welt“ (Zitat) käuflich erwerben. Nächste Meldung: Das geplante Konzert der Berliner Philharmoniker mit der Hard-Rock-Band Scorpions zur Weltausstellung in Hannover “Expo 2000“ wird nun doch stattfinden – gegen den Willen des Orchesterintendanten Elmar Weingarten.
Auch der Schlagersänger Udo Jürgens gehört zu den neuen Favoriten, mit denen das Orchester zusammenarbeiten will. Es soll von beidem auch CDs geben. Dritte Nachricht: Intendant Weingarten wird seinen bis zum Jahre 2001 laufenden Vertrag nicht verlängern. Er spricht von einem “Prozess der Entfremdung“ zu dem Orchester und von einer “mangelnden Vertrauensbasis“. Die Pläne des Orchesters mit Udo Jürgens und den Scorpions lehnt er ab. Zitat: “Diese Projekte sind symptomatisch für den Werteverfall, den ich beobachte.“
Weingarten weiter: Das Orchester habe die Aufgabe, mit großer Würde vorzuführen, wie man auch in diesen Zeiten, wo alle nach Events und Cross-over rufen, musikalische Integrität bewahren kann. Und: Zwar müssten auch die Berliner Philharmoniker in schwieriger gewordenen Zeiten neue Wege suchen, doch dürften sie sich deshalb nicht so an den Markt heranschmeißen.“
Man hört die Botschaften und wundert sich über fast alles. Zu Weingarten möchte man nach Sir John Falstaff zitieren: “Was ist die Würde? Kann man sie essen?“ Außerdem: so argumentiert, bestreitet Weingarten indirekt sowohl Jürgens als auch den Scorpions jede “Würde“, die diese selbstverständlich ebenso besitzen wie die Philharmoniker. Gleichwohl möchte man Weingartens Bedenken gegen die geplante Kooperation nicht so ohne weiteres beiseite schieben. Es kommt immer darauf an, wie etwas geschieht. Spekuliert das Orchester mit den populären Namen nur auf Zulauf, Absatz und Umsatzsteigerung – was leider auf Grund auch zurückliegender Erfahrungen zu befürchten ist –, dann muss man Weingartens Protest rückhaltlos unterstützen. Es liegt am Orchester, die beabsichtigten “Events“ ästhetisch zu legitimieren, nicht nur als gewinnträchtigen “Gag“ zu inszenieren. Rolf Liebermann hat immerhin vor vielen Jahrzehnten schon ein effektvolles Konzert für Jazzband und Sinfonieorchester komponiert, Strawinsky schrieb das “Ebony“-Concert und das avantgardistische Ensemble Modern tat sich mit Frank Zappa zusammen. Das alles geschah aus künstlerischer Neugier, nicht um “Kohle“ zu machen. Von einer so orientierten Neugier hat man bei den Berliner Philharmonikern bisher nichts gehört. Der Verdacht der puren Opportunität bleibt bis zum Beweis des Gegenteils bestehen. Vielleicht sollten die Musiker des Orchesters bis zum Dienstantritt Simon Rattles warten. Rattle ist zwar offen für Musik über den sogenannten E-Bereich hinaus, doch für wahllose Cross-over-Mischungen dürfte er kaum einstehen wollen.
Das Berliner Philharmonische Orchester bietet in dieser Diskussion kein besonders günstiges Bild. Die Einbrüche auf dem Klassikmarkt für Schallplatten sind sicher schmerzlich, und nicht nur für die Musiker, doch dürfte das hochdotierte und -subventionierte Orchester deshalb nicht gleich am Hungertuch nagen. Die Geldgier, die bei allem latent durchzuschimmern scheint, wirkt gerade im Hinblick auf die Situation vieler anderer Orchester, Theater und künstlerischer Institute eher abstoßend. Auch hierbei sollte man eine vorbildlichere Haltung einnehmen.
Es wird gern und immer wieder von dem hohen Selbstbewusstsein des Berliner Orchesters gesprochen. Ebenso gern würde man es sehen, wenn zum anspruchsvollen Selbstbewusstsein auch ein entsprechendes Nachdenken treten würde, zum Beispiel über die Zukunft des Sinfonieorchesters schlechthin, über veränderte Konzertformen, über größere Flexibilität der Programmgestaltung, über die selbstverständliche Integration der Musik unserer Zeit in die Konzerte, wie es Abbado ja schon vorgeführt hat. Aber es müsste noch viel intensiver betrieben werden. Warum verwandelt man die Berliner Philharmonie nicht nach Pariser Vorbild in eine Berliner Cité de la Musique? Ein Haus für viele Musiken, das den ganzen Tag geöffnet ist? Die Vorschlagsliste könnte noch unendlich verlängert werden. Nur: ein Udo-Auftritt und ein Scorpionsverschnitt sind als Entree zu einer Neubesinnung der Arbeit ein allzu dürftiger, intellektuell armseliger Einfall, “unwürdig“ eines großen Orchesters mit einer großen Geschichte. Da hat Elmar Weingarten schon recht. Die Junge Deutsche Philharmonie bot bei ihrer letzten Tournee einen hinreißenden Konzertabend mit Strawinskys “Petruschka“ und Bartóks “Holzgeschnitztem Prinz“. Zwischen den Musikern agierten Puppenspieler mit ihren Figuren oben im Puppentheater oder vorn an der Rampe, verwandelten sich dabei oft selbst in die Puppengestalten: es war ein hinreißend lebendiger, vitaler, umjubelter Abend, der auch ein junges Publikum begeisterte. Ein kleines Exempel für neue Konzertformen. Mit Crossover und Event hat das rein gar nichts zu tun.